Parteichef Philipp Rösler buhlt nach der Berliner Wahlpleite um neue Wählerschichten. In der Koalition brodelt es weiter: CDU attackiert den Vizekanzler

Berlin. Wie es wohl wäre, wenn es die FDP nicht mehr gäbe. Darüber hatte sich Philipp Rösler am Wahlabend offenbar so seine Gedanken gemacht. Als er gestern im Thomas-Dehler-Haus zur Erklärung des Berliner Wahldesasters ansetzte, wurde er persönlich. Für ihn sei der Wahlabend der schwerste gewesen, seit er FDP-Mitglied ist. Dann sprach er von der "vielleicht schwierigsten Lage für die FDP seit ihrem Bestehen". Ohne eine FDP würde eine liberale Partei in Deutschland fehlen - und ohne eine liberale Partei würde Deutschland anders aussehen, sagte Rösler gestern in Berlin.

Für die FDP geht es ab sofort ums Überleben. Vor der Wahl in Berlin hatten es die FDP-Granden irgendwie immer geschafft, miserablen Ergebnissen auch etwas Positives abzugewinnen. Und wenn es nur der Weckruf war, den man in diesem oder jedem Ergebnis zu erkennen vermochte. Aber wie kann man 1,8 Prozent noch positiv deuten? Was ist noch gut daran, wenn am Sonntag gerade einmal 26 916 Berliner für die Liberalen stimmten, während es bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren noch 198 516 gewesen waren? Die Berliner FDP landete schließlich hinter der NPD, nur rund 5000 Stimmen vor der Tierschutzpartei und noch ein paar wenige Stimmen vor den rechtspopulistischen Parteien Pro Deutschland und Die Freiheit.

Man müsse jetzt auf die Menschen zugehen, forderte Rösler, und das werde "ein langer Weg". Als Zielgruppe nannte er die "neuen Bürgerlichen", selbstständige Unternehmer und junge Unternehmensgründer, Ingenieure, Naturwissenschaftler. Jetzt sei Bescheidenheit notwendig, verlangte er.

Nur beim Konfliktstoff der Euro-Rettung wollte sich der Wirtschaftsminister partout nicht bescheiden geben. Ein Abrücken von seiner Forderung einer möglichen geordneten Insolvenz Griechenlands kam für ihn nicht infrage. An seine Partei richtete er nur die Ermahnung, beim Euro nicht zu überdrehen. "Nach fest kommt ab!", zitierte Rösler eine alte Handwerker-Weisheit.

So ging der Koalitionsstreit darüber munter in die nächste Runde der bitterbösen Schuldzuweisungen. Hessens FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn knöpfte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) vor. "Wir werden bei Europa darauf achten, dass nicht Herr Schäuble immer wieder neue Zusagen gen Europa sendet und das den Steuerzahler belastet, und wir werden von Frau Merkel Führung fordern." Es könne nicht sein, dass FDP-Politiker wie Rösler in der vergangenen Woche öffentlich von der Kanzlerin gerügt würden, obwohl sie das Gleiche sagten wie etwa CSU-Chef Horst Seehofer. "Philipp Rösler wird von der Kanzlerin - er ist immerhin ihr Stellvertreter - fast öffentlich getadelt, und so geht das in der Koalition nicht weiter." Die Hamburger FDP-Bundestagsabgeordnete Sylvia Canel verlangte "Führungsstärke" von der Kanzlerin, die aus Canels Sicht "ihren Frust" bei der FDP ablade.

Merkel zeigte sich noch unberührt vom wachsenden liberalen Zorn. Sie wiederholte, jeder müsse in der Euro-Schuldenkrise seine Worte vorsichtig wägen. "Ich denke, dass jeder um seine Verantwortung weiß", sagte die Kanzlerin - ohne aber Rösler beim Namen zu nennen. An ihrem Regierungspartner wollte sie dennoch keine Zweifel aufkommen lassen: "Ich glaube, dass wir unsere Regierungsarbeit fortsetzen werden. Und ich glaube nicht, dass etwas schwieriger wird."

Weitaus deutlicher gab CDU-Vize Norbert Röttgen dem Vizekanzler auf den Weg, zukünftig mehr auf seine Worte Acht zu geben: In der derzeitigen "fragilen Situation" müsse man wissen, dass "auch Reden von Politikern schon Handeln ist, schon Auswirkungen hat". In Spekulationen könne er keinen Stabilisierungsbeitrag erkennen.

Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) verlangte von der FDP, dass sie sich "europapolitisch neu justiert". In der Union wuchs gestern die Furcht, dass die Liberalen mit den vielen jungen Männern an der Spitze die Nerven verlieren könnten. Diese hätten wenig Rückhalt im Kabinett und zu wenig erfahrene Kollegen in der Fraktion, von denen sie Unterstützung erwarten könnten, hieß es in der Union.

Zumindest der interne Zusammenhalt der Liberalen funktionierte noch: An FDP-interner Kritik an Rösler oder Außenminister Guido Westerwelle drang kaum etwas nach außen. Einzig Außen-Staatsministerin Cornelia Pieper sprach von einem Fehler, "die Europartei FDP in Richtung Europa-Skeptiker zu profilieren". Der schleswig-holsteinische Landesverband entgegnete: "Die Europapartei FDP muss seriöse und vernünftige Antworten auf die Euro-Krise finden. Dazu gehört eben auch, dass man einen Schuldenschnitt Griechenlands nicht ausschließen darf", sagte Vize-Ministerpräsident und Sozialminister Heiner Garg dem Abendblatt. Er verlangte von der FDP ein sozialeres Profil - und eine Debatte über Mindestlöhne: "Ich wünsche mir von der FDP mehr Offenheit in zentralen Fragen, die die Menschen berühren. Wir sollten uns der Lohnuntergrenze öffnen. Die FDP muss zeigen, dass sie die Arbeitnehmer erreicht. Wer hart arbeitet, muss einen fairen Lohn bekommen." Garg betonte, dass er für eine möglichst politikferne Lösung für verbindliche Lohnuntergrenzen plädiere, und schlug eine "paritätisch besetzte Lohnfindungskommission" vor. Auch Canel betonte, die FDP sollte über die Lohnuntergrenze reden. "Dieses Thema geht viele Menschen etwas an. Wir machen keine Tarifverhandlungen im Bundestag, aber der Kombilohn ist eine Art Subvention", kritisierte sie.

Bis zur nächsten Landtagswahl in Schleswig-Holstein bleiben der FDP mehr als sieben Monate. Zeit, sich zu sammeln und neuen Optimismus zu schöpfen. Garg allerdings, der im November auch FDP-Landeschef werden soll, wollte sich vom Berliner Ergebnis ganz und gar nicht verunsichern lassen. "Die FDP Schleswig-Holstein tritt geschlossener auf als die Bundespartei derzeit", stellte er selbstbewusst fest.