Türkischer Präsident in Berlin. Staatsoberhaupt drängt auf schnellen EU-Beitritt. Bombendrohung verzögert Vortrag in Humboldt-Universität

Hamburg. Auf den ersten Blick wirkt Osnabrück vielleicht nicht wie das natürliche Ziel für den Staatsbesuch eines türkischen Präsidenten. Doch dass Abdullah Gül heute in die drittgrößte Stadt Niedersachsens reist und sich in das Goldene Buch der Stadt einträgt, ist dem Umstand geschuldet, dass Osnabrück die Heimatstadt von Bundespräsident Christian Wulff ist.

Indem Wulff seinen türkischen Gast heute in der Stadt herumführt, ihm das historische Rathaus mit dem Friedenssaal oder den Dom und die Marienkirche zeigt, erwidert er den herzlichen Empfang durch Gül in dessen zentralanatolischem Geburtsort Kayseri im Oktober 2010. Zudem ist Osnabrück als jene Stadt, in der neben Münster der Westfälische Friede geschlossen wurde - der den entsetzlichen Dreißigjährigen Krieg von 1618-1648 beendete -, von erheblicher symbolischer Bedeutung für Europapolitiker.

Gül ist seit Sonntagabend in Deutschland. Zunächst hatten er und seine Frau Hayrünnisa mit Wulff und dessen Frau Bettina einen privaten Bootsausflug unternommen, die legendäre Glienicker "Brücke der Spione" sowie eine Dönerkneipe besichtigt. Seinen Vortrag in der Berliner Humboldt-Universität konnte Gül nur mit einigen Stunden Verzögerung halten: Nach einer Bombendrohung ließ die Polizei den ursprünglich geplanten Veranstaltungssaal räumen. Nachdem die Universität ergebnislos durchsucht worden war, redete Gül dann in einem anderen Saal vor geladenen Gästen und rief dazu auf, das 21. Jahrhundert zum "Jahrhundert der Integration" zu machen.

Am Morgen hatte es den offiziellen Empfang mit militärischen Ehren vor Schloss Bellevue, Wulffs Amtssitz, gegeben. Ein Doppelbesteuerungsabkommen wurde unterzeichnet. Gül betonte, Ankara halte an dem Ziel fest, Vollmitglied der Europäischen Union zu werden. "Die Türkei kann für Europa einen großen Beitrag leisten", sagte der Staatspräsident zum politischen Auftakt seiner viertägigen Deutschland-Visite. "Von diesem strategischen Ziel werden wir nicht abrücken", sagte Gül und forderte "faire und vorurteilsfreie Verhandlungen". Auf die Frage, was geschehe, falls es noch Jahre mit dem Beitritt dauere, sagte Gül allerdings: "Vielleicht möchte das türkische Volk dann gar nicht mehr beitreten." Wulff würdigte die Brückenfunktion der Türkei bezüglich der arabischen Welt und meinte etwas diffus: "Ich glaube, dass wir in Deutschland darauf schauen, wie die Türkei ihre gewachsene Rolle jetzt auch wahrnimmt."

Deutlicher wurde da der türkisch-stämmige Grünen-Chef Cem Özdemir. "Gerade wenn man nicht möchte, dass sich die Beziehungen der Türkei und Israels weiter verschlechtern, oder auch Sorgen hat, dass sich die türkische Außenpolitik in gefährliches Fahrwasser begibt, ist es umso wichtiger, dass die Türkei eng an Europa angebunden wird", sagte Özdemir. Güls Staatsbesuch sei wichtig "gerade in diesen Tagen", in denen "ein Abkühlen des Verhältnisses zur Europäischen Union festgestellt werden kann".

Unmut in Deutschland hatte Abdullah Gül mit dem Vorwurf ausgelöst, das mehrfach verschärfte deutsche Einwanderungsrecht, das seit 2007 einen Deutschtest für Ehepartner fordert, die aus der Türkei nachziehen, verletze die Menschenrechte. Diese Politik sei ungerecht und stehe nicht im Einklang mit dem Gedanken einer fortschrittlichen Demokratie, meinte der Präsident. Die Forderung nach deutschen Sprachkenntnissen für Ehepartner sei "ein Kriterium, das ein bisschen verletzt". Wulff entgegnete, niemand wolle die Assimilation. Doch ohne grundlegende Sprachkenntnisse sei eine Integration gar nicht möglich.

Versöhnlich rief Gül die mehr als 2,5 Millionen Türken in Deutschland dazu auf, Deutsch weitgehend akzentfrei zu lernen. Damit gebe niemand seine Kultur und Religion auf. Ähnliches erwarte man auch von Türken in Großbritannien oder China. Allerdings sollten die Türken auch in Deutschland ihre Muttersprache Türkisch erlernen. Die CDU-Politiker Ruprecht Polenz und Volker Kauder mahnten Religionsfreiheit in der Türkei an. Christen werde das Praktizieren ihres Glaubens noch immer erschwert, sagte Polenz. Und Kauder meinte, so, wie die Muslime in Deutschland Moscheen bauen dürfen, so sollten auch Christen in der Türkei Kirchen bauen dürfen.

Zu Güls Empfang in Berlin hatte sich eine Klasse der deutsch-türkischen Carl-von-Ossietzky-Schule mit zahlreichen türkischstämmigen Schülern eingefunden. Allein in der Hauptstadt leben mehr als 185 000 Menschen türkischer Herkunft; 80 000 von ihnen besitzen einen deutschen Pass - es ist die größte türkische Gemeinschaft außerhalb der Türkei.

Noch während Gül und Wulff harmonische Beziehungen präsentierten, kam es zwischen der Türkei und der EU zu einer neuen Krise. Ankara drohte gar mit der Entsendung von Kriegsschiffen und dem Einfrieren der Beziehungen zur EU während der zyprischen Ratspräsidentschaft. Hintergrund sind Probebohrungen nach Öl und Gas einer amerikanischen Firma vor der Küste der Republik Zypern. Sollte die Regierung in Nikosia nicht Abstand von den geplanten Probebohrungen "in türkischen Gewässern" nehmen, werde Ankara ein eigenes, von Kriegsschiffen begleitetes Forschungsschiff entsenden, erklärte Energieminister Taner Yildis.

Zypern übernimmt am 1. Juli für sechs Monate den Vorsitz im EU-Ministerrat. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits im Juli damit gedroht, die Beziehungen zu Zypern einzufrieren, falls der Zypern-Konflikt nicht gelöst sei. Zypern ist seit 2004 EU-Mitglied, der Norden der Insel ist allerdings seit 1974 von türkischen Truppen besetzt. Die türkische Inselrepublik aber wird nur von Ankara anerkannt. Die EU bekräftigt dagegen den Anspruch der (ethnisch griechischen) Zyprer auf die gesamte Insel.