Türkischer Staatspräsident überzieht Kritik an Deutschland

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der moderate türkische Staatspräsident Gül die undankbare Aufgabe übernommen hat, jene politischen Schäden auszubessern, die sein hitziger Premier Erdogan regelmäßig verursacht. So fand Gül besänftigende Worte selbst in der schwelenden Krise mit Israel, und jetzt auf der Deutschland-Tour klingt bei ihm alles höflicher als bei Erdogan.

Allerdings wirkt es auch bei Gül kurios, wenn er eine Verletzung der Menschenrechte feststellt, nur weil Deutschland Deutschkenntnisse bei türkischen Nachzüglern fordert - was selbstverständlich sein sollte. Überdies ist die Menschenrechtsbilanz der Türkei - namentlich bezüglich Christen, Kurden und kritischen Journalisten - alles andere als glänzend.

In der Türkei hat sich vieles gebessert, doch die meisten Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte betreffen immer noch dieses Land. Da sollte Ankara mit Kritik sparsam umgehen.

Derweil sucht die wirtschaftlich voranstürmende Türkei ihre neue Rolle in den europäisch-mittelöstlichen Machtstrukturen. Zurzeit vollführt sie dabei einen zirkusreifen Spagat zwischen den Ansprüchen auf eine Vollmitgliedschaft in der EU und einer Führungsrolle in der arabischen Welt. Beides zugleich würde sowohl die Türkei als auch die Integrationsfähigkeit der EU weit überfordern. Die jüngsten Gedankenspiele der Führung in Ankara lassen darauf schließen, dass sich die Türkei eher ihrer eigenen Region zuwenden wird. Dahin zielen auch Äußerungen des türkischen Außenministers Davutoglu, der eine türkisch-ägyptische "Achse der Macht" anstrebt - als Ersatz für den schwindenden Einfluss der USA. Die Demokratie Israel würde damit strategisch in die Zange genommen werden. Zwar empfiehlt sich die dynamische und vergleichsweise liberale Türkei als Modell für orientierungslos wirkende arabische Gesellschaften. Doch besteht die Gefahr, dass sich der ehrgeizige Machtmensch Erdogan überschätzt und eine gefährliche Dynamik in die Risiko-Region einbringt. Beunruhigende Anzeichen dafür sind seine militärischen Drohgebärden gegenüber Israel und Zypern.