Cem Özdemir spricht im Interview über den Atomausstieg, seine Pläne als Grünen-Chef – und seine Essgewohnheiten in Zeiten von EHEC.

Berlin. Cem Özdemir kann von einem Moment auf den anderen die Rolle wechseln: vom Staatsmann in nachtblauen Nadelstreifen zum anatolisch-schwäbischen Lausbub, der von Streichen erzählt, die er anderen Politikern spielt. Etwa wie er einmal dem Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster von der CDU heimlich das Logo "Atomkraft? Nein danke!" auf das Namensschild klebte. Im Abendblatt-Interview beendet Özdemir die Debatte um einen grünen Kanzlerkandidaten - zumindest für sich selbst.

Hamburger Abendblatt:

Herr Özdemir, essen Sie Sprossen?

Cem Özdemir:

Meine Frau und ich sind Vegetarier und große Salatfans. Aber EHEC macht uns schon Sorgen. Wir sind vorsichtig.

Wie sieht der Speiseplan eines grünen Vegetariers in Zeiten von EHEC aus?

Özdemir:

Meine Frau hat einen argentinisch-italienischen Hintergrund. Wir lassen uns von der mediterranen Küche inspirieren und essen viel Pasta.

Sagen Sie immer noch: Bio ist gesünder?

Özdemir:

Wir kaufen fast ausschließlich Bio-Produkte. Sie schmecken besser und sind auch gesünder.

Der Gärtnerhof in Bienenbüttel, der unter EHEC-Verdacht steht, bringt sie nicht davon ab?

Özdemir:

Bisher ist noch nichts bewiesen, und niemand weiß, woher die Erreger letztlich stammen. Jetzt kommt es darauf an, dass die Ursachen der Epidemie schnell aufgeklärt werden.

Alle Welt geißelt das Krisenmanagement der Deutschen ...

Özdemir:

... und das zu Recht. Es zeigt sich, dass Deutschland nicht gut auf solche Situationen vorbereitet ist. Die Abstimmung zwischen den zuständigen Stellen in Bund und Ländern muss dringend verbessert werden. Die vorschnelle Warnung aus Hamburg vor spanischen Gurken hat viele Hersteller ruiniert.

Auf spanischen Gurken fanden sich tatsächlich EHEC-Erreger ...

Özdemir:

... aber von einem Stamm, der die Epidemie nicht ausgelöst hat. Der Hamburger Senat sollte sich in aller Form entschuldigen - auch bei den besonders betroffenen spanischen Bauern.

Hamburg ist sich keiner Schuld bewusst - und auch der Bund will keine Versäumnisse erkennen ...

Özdemir:

Die Bundesregierung beherrscht nicht einmal das Einmaleins des Krisenmanagements. Sie hat Wochen nach Ausbruch der Krankheit immer noch kein Krisentelefon für besorgte Bürger eingerichtet. Ich rate dringend dazu, Konsequenzen aus dem Chaos zu ziehen.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung steigt aus der Atomenergie aus - wie es die Grünen immer gefordert haben. Warum freuen Sie sich nicht?

Özdemir:

Ich freue mich. Ich freue mich sogar sehr, weil die Chance besteht, einen gesellschaftlichen Großkonflikt zu beenden. Und weil auch die Union, wie es scheint, nach Jahrzehnten endlich die Gefahren der Atomkraft anerkennt. Ein stufenweiser Atomausstieg schafft Planungssicherheit für unsere Wirtschaft, die jetzt voll auf erneuerbare Energien setzen kann. Mit einem Ausstieg senden wir ein Signal, das weit über Deutschland hinausgeht: Wenn wir vormachen, wie man ohne Atomkraft den Wohlstand mehren und gleichzeitig das Klima schützen kann, erzeugen wir eine Sogwirkung für die ganze Welt. Ein parteiübergreifender Energiekonsens wäre ein immens großer Wert. Rot-Grün hatte einen Konsens schon 2001 angeboten, aber die Union spielte damals lieber Fundamentalopposition.

Also stimmen die Grünen im Bundestag zu.

Özdemir:

Moment! Bei Frau Merkel muss man immer genau hinschauen. Bürgerliche Tugenden sind in dieser Regierung ja eher schwach ausgeprägt. Wir Grünen als Erben bürgerlicher Werte werden eingehend prüfen, was uns da vorgesetzt wird. Unseren guten Namen geben wir nur dafür her, wenn wir das auch verantworten können.

Ihre Forderung, schon 2017 aus der Kernkraft auszusteigen, werden Sie nicht mehr durchsetzen.

Özdemir:

Für einen parteiübergreifenden und damit verbindlichen Ausstiegskonsens müssen alle Seiten zu Kompromissen bereit sein. Wichtig sind uns auch noch andere Forderungen ...

... die wären?

Özdemir:

Atom darf jetzt nicht durch Kohle ersetzt werden. Das Ziel, 35 Prozent der Energieversorgung bis 2020 aus erneuerbaren Quellen zu speisen, halten wir für unterambitioniert. Zur Frage der Sicherheit der Atomkraftwerke finden sich ungenügende Aussagen im Gesetzestext. Und bei der Suche nach einem Atomendlager sollten wir noch einmal von vorne beginnen - in ganz Deutschland. Wir müssen den Standort wählen, der nach wissenschaftlichen Kriterien der geeignetste ist.

Sind das Bedingungen oder Wünsche?

Özdemir:

Es sind unsere Forderungen, mit denen wir jetzt in die parlamentarischen Beratungen gehen. Dabei schauen wir uns die Gesetzespakete genau an und entscheiden bei jedem Einzelnen, ob wir zustimmen können oder nicht.

Unterstützen Sie den Ausbau des Stromnetzes?

Özdemir:

Wir haben den Netzausbau auf Bundesebene immer unterstützt ...

... und in den Gemeinden dagegen protestiert.

Özdemir:

Auf lokaler Ebene hat man die Leute zu wenig einbezogen. Es waren ja außerdem nicht nur Grüne, die protestiert haben. Ich kenne auch CDU-Bürgermeister. Das muss jetzt anders werden. Wir müssen pragmatisch vorgehen - und in sensiblen Regionen auf Erdkabel zurückgreifen ...

... die um ein Vielfaches teurer sind.

Özdemir:

Dafür geht es schneller. Das ist auch im Interesse der Unternehmen. Im Übrigen rate ich davon ab, zu stark auf Offshore-Windkraft in Nord- und Ostsee zu setzen. Wenn wir mehr Windräder an Land bauen, brauchen wir nicht so viele Stromleitungen.

Sie werden Szenen wie beim Bahnprojekt Stuttgart 21 bald in ganz Deutschland erleben.

Özdemir:

Wenn man die Bürger frühzeitig umfassend beteiligt, wird das nicht passieren.

Wie fühlt es sich an, dass die Gegner von Stuttgart 21 jetzt die Grünen ins Visier nehmen?

Özdemir:

Das richtet sich nicht gegen uns, sondern gegen die SPD. Aber im Zweifel muss man das aushalten.

Wird der Stuttgarter Bahnhof nun tiefergelegt - oder nicht?

Özdemir:

Wir halten einen unterirdischen Bahnhof für verkehrspolitisch unsinnig. Und wir meinen es damit ernst.

Wie wollen Sie das Projekt noch stoppen?

Özdemir:

Das wird nicht einfach. Aber wenn die Zahlen des Stresstests auf den Tisch kommen, müssten selbst die Fundamentalisten im Bundesverkehrsministerium die Sinnlosigkeit des Vorhabens erkennen.

Herr Özdemir, wenn alle Parteien grün werden - wozu braucht Deutschland dann noch die Grünen?

Özdemir:

Diese Frage ist so alt wie die Frage, ob man sich Grün noch leisten kann...

... aber drängend wie selten.

Özdemir:

Im Zweifel wählen die Leute das Original. Das gilt inzwischen für viele Themen.

Wird Schwarz-Grün wieder wahrscheinlicher?

Özdemir:

Wir verfolgen einen Kurs der Eigenständigkeit und schauen, mit wem wir grüne Inhalte am besten umsetzen können. Die Schnittmenge mit der SPD ist da größer. Aber wir haben immer gesagt, dass wir je nach Situation vor Ort auch mit der CDU reden. Von der Laufzeitverlängerung hat sie sich jetzt verabschiedet, aber es gibt noch genug andere Themen, die uns trennen. Nehmen Sie nur die europapolitische Irrfahrt dieser Bundesregierung. Ich hätte mir nie erträumen lassen, dass ein EU-Land wie Dänemark wieder Grenzkontrollen einführt und eine deutsche Kanzlerin tatenlos zusieht.

Minister im dritten Kabinett Merkel - würde Sie das gar nicht reizen?

Özdemir:

Wir verteilen jetzt doch keine Kabinettsposten.

Haben Sie den Kinofilm über Joschka Fischer gesehen?

Özdemir:

Ich war bei der Premiere.

Hat er Ihnen gefallen?

Özdemir:

Es war sehr schwül in dem Kinosaal. Aber der Film war gut.

Er hat grüne Kanzlerfantasien wachgerufen. Ist ein Kanzlerkandidat Fischer vorstellbar?

Özdemir:

Joschka Fischer hat ja ausgeschlossen, Kanzlerkandidat zu werden. Insofern stellt sich die Frage nicht. Er hat Jüngeren die Verantwortung übertragen.

Kanzlerkandidat Özdemir?

Özdemir:

Ich sehe derzeit nicht, dass sich für die Grünen die Frage stellt, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Wir sollten auf dem Boden bleiben. Regieren nach Schwarz-Gelb wird kein Zuckerschlecken. Wir müssen die Zeit bis zur Wahl jetzt nutzen, uns inhaltlich gut vorzubereiten.

Wäre Deutschland reif für einen türkischstämmigen Kanzler?

Özdemir:

Deutschland ist reif für eine neue Regierung. Darum geht es uns, und daran arbeiten wir. Sollte sich die K-Frage irgendwann stellen: Ich sehe mich nicht in dieser Rolle.