DGB-Chef Michael Sommer beklagt den Zustand der Sozialdemokraten und warnt vor Schaden für den Industriestandort durch die Energiewende.

Hamburg. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Michael Sommer ist nicht nur ein treues SPD-Mitglied, sondern auch ein besonders kritisches, wie er im Abendblatt-Interview unter Beweis stellt.

Hamburger Abendblatt:Herr Sommer, haben Sie in letzter Zeit mal daran gedacht, den Grünen beizutreten?

Michael Sommer:(lacht) Keine Sekunde. Ich bin jetzt seit 30 Jahren in der SPD. Umfragen werden daran nichts ändern.

Frank Bsirske, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, ist Mitglied der Grünen. Diskutieren Sie mit dem Kollegen über die Kräfteverschiebung zwischen Ihren Parteien?

Sommer: Das spielt zwischen Frank Bsirske und mir keine Rolle - obwohl wir uns die Wahlergebnisse sehr genau angucken und analysieren. Die Gewerkschaften sind parteipolitisch unabhängig. Und was die Kräfteverschiebung angeht: Vor anderthalb Jahren hat so mancher die FDP auf dem Weg zur Volkspartei gesehen. Jetzt ist sie in den Umfragen der politische Paria.

Sie halten die Stärke der Grünen für ein vorübergehendes Phänomen?

Sommer: Auf manchen Höhenflug folgt ein Sinkflug. Darauf sollte sich die SPD aber nicht verlassen. Sie ist gleich zweimal - in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg - Dritter geworden. Und bei der Wahl in Rheinland-Pfalz hat sie zehn Prozent verloren. Das zeigt: Es gibt eine strukturelle Schwäche der SPD. Sie kommt aus ihrem 25-Prozent-Getto nicht heraus. Hamburg, wo Ihr geschätztes Blatt erscheint, ist eine Sondersituation.

Inwiefern?

Sommer: Ich bin ja kein Hamburger, aber ich glaube, die Menschen in der Hansestadt haben nach dem Abgang von Ole von Beust eher mit der CDU abgerechnet. Der Zustand der sozialdemokratischen Volkspartei macht mir Sorgen - auch unter strategischen Gesichtspunkten. Es muss Alternativen geben zu Schwarz-Gelb und Schwarz-Grün. Beide machen am Ende konservative Politik. Deshalb braucht dieses Land eine sozialdemokratische Volkspartei.

Warum profitieren die Sozialdemokraten nicht von der Schwäche der Bundesregierung?

Sommer: Der SPD fehlt ein klares Profil - sie hat die Schröder-Zeit und die Agenda 2010 immer noch nicht hinter sich gelassen. Eine Partei, die ihre Seele verloren hat, verliert auch ihre Wähler. Und die SPD wird ihre Wähler erst wiedergewinnen, wenn sie ihre Seele als linke, arbeitnehmerorientierte Volkspartei wiedergewonnen hat. Sigmar Gabriel und andere haben sich auf den Weg gemacht, die SPD zu ihren Wurzeln zurückzuführen. Aber die Glaubwürdigkeit, die Schröder und Müntefering verspielt haben, lässt sich nicht von heute auf morgen wiederherstellen. Die SPD hat die Treuesten der Treuen, unter ihnen viele aktive Gewerkschafter, verprellt.

Sie wünschen sich die SPD als verlängerten Arm der Gewerkschaften.

Sommer: Nein, da missverstehen Sie mich. Wir brauchen keine Gewerkschaftspartei. Wir brauchen aber sehr wohl eine linke Volkspartei. Die SPD hat mit der Agenda 2010 den Wert von Arbeit infrage gestellt. Das ist genauso, als würden die Grünen die Atomkraft verteidigen. Wahlen gewinnt man so nicht.

Wie viel Grün braucht Deutschland?

Sommer: Grün allein reicht nicht. Wir müssen Arbeit und Umwelt miteinander verbinden. Deutschland muss Ökologie- und Industrieland zugleich sein. Ich bin mir sicher: Das ist möglich und macht den Industriestandort Deutschland auch fit für die Zukunft.

Was bedeutet das für die Energiepolitik? Sommer: Die Gewerkschaften haben schon vor Fukushima gesagt: Es war Wahnsinn, den mühsam errungenen Atomkonsens aufzukündigen und die Laufzeiten zu verlängern. Nach Fukushima haben wir alle eine neue Einschätzung, was ein Restrisiko ist. Wir müssen so schnell wie möglich aus der Atomkraft aussteigen.

Das sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel auch. Was verbirgt sich hinter Ihrer Formulierung?

Sommer: Niemand kann seriös eine Jahreszahl nennen. Der rot-grüne Atomkonsens sah vor, 2022 das letzte Kraftwerk vom Netz zu nehmen. Nach Möglichkeit sollte es nun schneller gehen.

Können Wind- und Sonnenenergie die Atomkraft bis dahin ersetzen?

Sommer: Sagen wir es so: Die Brückentechnologie, die uns ins erneuerbare Zeitalter führt, ist nicht die Atomkraft. Die Brücke bilden wohl eher Kohle und Gas.

Gas muss importiert werden - und Kohle beschleunigt den Klimawandel ...

Sommer: Moderne Kohlekraftwerke sind, auch dank neuester Filtertechnik, keine Dreckschleudern mehr wie früher. Wir reden ja auch von einer Brückentechnologie, nicht von einer langfristigen Lösung.

SPD-Fraktionschef Steinmeier mahnte im Abendblatt-Interview, der Erhalt von Arbeitsplätzen hänge von einer sicheren Energieversorgung ab ...

Sommer: Wenn Deutschland ein Industrieland bleiben will, muss die Energiewende klug organisiert werden. Dabei müssen wir auch an die Beschäftigten denken, die im Energiesektor arbeiten. Wenn uns ein geordneter Umstieg gelingt, wird der Industriestandort gestärkt daraus hervorgehen. Neue, ökologische Technologien werden an die Stelle der Atomkraft treten. Deutschland wird Wettbewerbsvorteile haben gegenüber Ländern, die an der Atomkraft festhalten.

Was kostet die Energiewende - und wer soll sie bezahlen?

Sommer: Diese Debatte erinnert mich an das Tippen der Lottozahlen. Wir brauchen seriöse Berechnungen. Die Energiewende ist ohne Alternative. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Kosten in einem überschaubaren Rahmen halten lassen. Sie müssen von den Energiekonzernen, vom Staat und von den Verbrauchern getragen werden. Wer jetzt fahrlässig die Kosten hochredet, um die Energiewende zu verhindern, handelt verantwortungslos.

Stellen die Gewerkschaften die Energiefrage auch ins Zentrum ihrer Mai-Kundgebungen?

Sommer: Natürlich geht es am 1. Mai darum, wie wir das Industrieland Deutschland ökologisch modernisieren. Aber neben der wichtigen ökologischen Frage ist die soziale Frage in Deutschland immer noch nicht gerecht beantwortet. Die sozialen Themen bleiben auf der Tagesordnung. Wir kämpfen weiter für faire Löhne, gute Arbeit und soziale Sicherheit.

Sieben Jahre nach der Osterweiterung der Europäischen Union wird am 1. Mai der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus Osteuropa geöffnet. Verheißung oder Bedrohung?

Sommer: Weder noch, es ist eine lösbare Aufgabe. Wir müssen verhindern, dass Lohn- und Sozialdumping betrieben wird. In der Leiharbeit haben wir einen Mindestlohn durchgesetzt, aber das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ist am Widerstand von Schwarz-Gelb gescheitert. Das bedauere ich sehr.

Was fordern Sie?

Sommer: Ich erwarte, dass Leih- und Stammbeschäftigte gleich bezahlt werden für gleiche Arbeit. Es fehlt weiterhin eine Meldepflicht über Arbeitsverhältnisse. Der Arbeitgeber kann gegen die Bestimmungen verstoßen, ohne dass die Behörden davon erfahren. Ich erwarte von der Bundesarbeitsministerin, dass sie hier schnellstmöglich nacharbeitet. Das sicherste Mittel, um Lohndumping zu verhindern, ist natürlich ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro. Aber der wird von der FDP und großen Teilen der Union blockiert.

Ist die Öffnung des Arbeitsmarkts auch eine Chance, den Fachkräftemangel zu dämpfen?

Sommer: Im Prinzip ja. Die Freizügigkeit wird allerdings von manchen Arbeitgebern dazu missbraucht, Deutschland zu einem Land der Niedriglöhner zu machen. Man bekommt Fachkräfte aber nicht für Hungerlöhne. Deutschland kann sich da von Großbritannien einiges abschauen.

Fachkräfte schauen doch nicht nur auf das Geld.

Sommer: Richtig. Die Menschen, die als Fachkräfte aus anderen Ländern kommen, fragen sich, ob sie in Deutschland überhaupt willkommen sind. Es muss eine größere Bereitschaft geben, Menschen zu integrieren. Wir müssen Deutschland attraktiver machen zum Beispiel für junge Esten, Polen oder Slowaken. Wir müssen sie willkommen heißen als gleichberechtigte Menschen - und dürfen sie nicht abtun als Billiglöhner, die man ausbeuten kann.

Guido Westerwelle, mit dem sich die Gewerkschaften über Jahrzehnte beharkt haben, wird nicht mehr lange Vorsitzender der Liberalen sein. Sind Sie frohdarüber?

Sommer: Nein.

Warum nicht?

Sommer: Westerwelle und ich haben uns ausgesprochen und unser Verhältnis normalisiert. Politisch ist es kein großer Unterschied, ob die FDP von Westerwelle, Rösler oder Lindner geführt wird. Die FDP fördert den grenzenlosen Kapitalismus und stellt sich gegen den sozialen Fortschritt. Ein sozialer Staat ist mit dieser Partei kaum zu machen.