Grünen-Chefin Claudia Roth über die Folgen der jüngsten Wahlergebnisse, Konsequenzen für Stuttgart 21 und Koalitionen mit der Union.

Berlin. In Hamburg sind die Grünen nur noch Oppositionspartei, dafür können sie in Baden-Württemberg ihren ersten Ministerpräsidenten stellen. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt erläutert Parteichefin Claudia Roth die Pläne der Ökopartei.

Hamburger Abendblatt: Die Grünen haben ihren ersten Ministerpräsidenten. Verändert Winfried Kretschmann nur das Ländle - oder auch das Land?

Claudia Roth: Winfried Kretschmann hat das Land schon verändert. Der Wahlsieg der Grünen zeigt: Die Menschen vertrauen darauf, dass wir das Wirtschaften ökologisieren - mit Profit.

Was bedeutet das für den Wirtschaftsstandort im Südwesten?

Roth: Baden-Württemberg geht es gut. Aber das bleibt nur so, wenn sich auch die Wirtschaft weiterentwickelt. Sie muss sich stärker neuen Technologien zuwenden. Gerade die Automobilindustrie sollte den Ehrgeiz entwickeln, die besten Elektroautos zu bauen und die sparsamsten, effizientesten Motoren. Da hinken wir anderen Ländern hinterher.

Was wird aus Stuttgart 21?

Roth: Das ist ein Prestigeprojekt ohne Mehrwert.

Also weg damit.

Roth: Die Grünen tun alles, damit es einen hervorragenden Bahnhof gibt - und kein Milliardengrab. Am besten wäre es, wenn die Bahn von sich aus auf Stuttgart 21 verzichten würde, weil sie einsieht, dass sich das Projekt nicht lohnt.

Der Bahnchef wird schmunzeln, wenn er das liest.

Roth: Wenn die Bahn nicht selbst darauf kommt, muss der Stresstest zeigen, ob der Tiefbahnhof wirklich leistungsfähiger ist. Dann sollen die Bürgerinnen und Bürger entscheiden.

Droht Baden-Württemberg eine Schulreform nach Hamburger Vorbild?

Roth: Die Grünen haben aus Hamburg gelernt. Eine Schulreform wird es nur im Konsens mit den Beteiligten geben.

Mit welchem Ziel?

Roth: Wir wollen erreichen, dass die Schüler länger gemeinsam lernen. So können auch viele Grundschulen erhalten werden, die sonst geschlossen werden müssten. Wir wollen nicht nur die Kirche, sondern auch die Schule im Dorf lassen. Nordrhein-Westfalen kann dabei Vorbild sein. Dort setzen sich mittlerweile auch CDU-Bürgermeister für längeres gemeinsames Lernen ein.

Die Grünen wollen ein Atomendlager im niedersächsischen Gorleben verhindern. Suchen Sie jetzt nach Alternativen in Baden-Württemberg?

Roth:Quatsch. Das ist keine politische Entscheidung.

Sie haben die CDU immer kritisiert, weil sie keine Standorte im Süden erkunden wollte.

Roth: Und weil sie gleichzeitig aber mehr Müll durch Laufzeitverlängerungen produzieren wollte. Atomjunkies wie Herr Mappus und andere in der Union wollten die Profite aus den Laufzeitverlängerungen, den Müll dann aber woanders lagern. Zuerst braucht es den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomkraft, um die Menge an Müll zu begrenzen. Dann muss es eine ergebnisoffene Suche nach wissenschaftlichen Kriterien geben. Die Vorfestlegung der schwarz-gelben Koalition auf Gorleben muss aufgehoben werden. Wir halten den Salzstock nicht für geeignet.

Wann soll in Deutschland das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen?

Roth: Der Atomausstieg ist innerhalb der nächsten Wahlperiode möglich. Wir brauchen jetzt einen Masterplan, der die Rahmenbedingungen festlegt. Dazu gehört ein konsequenter Ausbau der erneuerbaren Energien. Als Erstes müssen die sieben ältesten Kraftwerke und der Pannenreaktor in Krümmel endgültig stillgelegt werden.

Mit dieser Position müssen Sie aufpassen, dass Sie nicht von der FDP überholt werden ...

Roth: Was Herr Lindner sagt, kommt mir vor wie eine grüne Panikattacke. Bei der FDP geht es drunter und drüber. Man muss sich nur mal die Begründung anschauen: Er will sieben Atomkraftwerke abschalten, damit die Akzeptanz für die anderen wächst. Falsch gedacht, Herr Lindner. Alle müssen so schnell wie möglich weg.

Jedenfalls müssen die Grünen ihre Kernposition, die strikte Ablehnung der Atomkraft, inzwischen teilen. Wie wollen Sie sich von anderen abheben?

Roth: Ich wäre eine grottenschlechte, unglaubwürdige Grüne, wenn ich sagen würde: Der Atomausstieg gehört nur uns. Aber wir machen das Thema nicht mal eben zwei Wochen im Wahlkampf. Die Grünen kämpfen seit 31 Jahren für den Atomausstieg.

Wer die erneuerbaren Energien ausbauen will, braucht auch neue Stromleitungen. Warum sperren sich die Grünen gegen den Ausbau des Energienetzes?

Roth: Das ist eine Mär.

Sie sperren sich nicht?

Roth: Es gibt viele CDU-Bürgermeister, die sich vor Ort mit Händen und Füßen gegen neue Stromleitungen wehren ...

... das rettet Ihre Glaubwürdigkeit nicht.

Roth: Wir haben uns mit guten Gründen gegen einzelne Planungen gewandt, die über die Köpfe der Menschen hinweg getroffen wurden, nicht aber gegen den Ausbau selbst. Es kann nicht sein, dass Stromtrassen ohne Einbeziehung der Menschen durch Naturschutzgebiete geplant werden.

Wir halten fest: Die Grünen unterstützen den Ausbau des Energienetzes.

Roth: Natürlich. Dazu gibt es mehrere Parteibeschlüsse. Wer auf Windkraft setzt, muss auch dazu beitragen, dass Stromtrassen entstehen können. Alles andere wäre Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip.

Wie teuer wird Strom sein, wenn das letzte Atomkraftwerk stillgelegt ist?

Roth: Der teuerste Strom ist der Atomstrom. Wenn sich die Kraftwerksbetreiber gegen die Risiken selbst absichern und die Entsorgung ihres Mülls selbst bezahlen müssten, würde eine Kilowattstunde etwa zwei Euro kosten. Und selbst ohne diese Rechnung ist Atomstrom in den letzten fünf Jahren immer teurer geworden.

Glauben Sie, nach dem Atomausstieg wird er wieder billiger?

Roth: Davon bin ich überzeugt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien stärkt den Wettbewerb.

Macht der Kurswechsel der Union in der Atompolitik schwarz-grüne Bündnisse wieder wahrscheinlicher?

Roth: Die Grünen sitzen nicht im ideologischen Schützengraben. In Frankfurt regiert Schwarz-Grün erfolgreich. In Hamburg war Schwarz-Grün mit Ole von Beust möglich - mit Herrn Ahlhaus nicht. Die Inhalte, aber auch die Personen müssen passen. Das ist mit der CDU aber immer schwieriger, sie hat sich inzwischen sehr weit von uns entfernt.

Was trennt CDU und Grüne fundamental?

Roth: Immer noch die Energiepolitik. An eine Wende glaube ich erst, wenn der Atomausstieg festgeschrieben wird. Frau Merkel hat Schwarz-Grün erst vor Kurzem noch als Hirngespinst bezeichnet. Sie hat die Grünen in einer beispiellosen Kampagne zum Hauptfeind erklärt. Das haben wir nicht vergessen.

So nachtragend?

Roth: Weil die FDP in der Bedeutungslosigkeit versinkt, macht Angela Merkel nun ein bisschen auf Grün. Aber so billig sind wir nicht zu haben. Frau Merkels Entscheidungen haben kaum noch etwas mit eigenen Überzeugungen zu tun. Sie reduziert sich zu einer reinen Machtpolitikerin. Man kann nicht erkennen, was sie will - außer Kanzlerin sein. Und das reicht nicht, um mit den Grünen zu koalieren. In einem Bündnis müssen die Inhalte zusammenpassen, für die man gemeinsam kämpft. Und das sehe ich bei CDU und Grünen nicht.

Hamburger Grüne um den früheren Justizsenator Steffen wollen Schwarz-Grün wiederbeleben. Ein aussichtsloses Unterfangen?

Roth: Till Steffen und die GAL müssen sich jetzt darauf konzentrieren, eine gute Opposition zu machen - und aufzuarbeiten, was in der Regierungszeit mit der CDU hätte anders laufen können.

Wer ist die linke Volkspartei - Grüne oder SPD?

Roth: Ach, Volkspartei. Ich habe eine tiefe Abneigung gegen diesen Begriff.

Sie können auch Bevölkerungspartei sagen.

Roth: Darum geht es nicht. Ich bin traumatisiert durch die sogenannte Volkspartei CSU. Der Anspruch, das ganze Volk zu vereinnahmen, ist mir nicht geheuer.

Wie viele Ministerpräsidenten werden die Grünen am Jahresende stellen?

Roth: Zwei. Ich bin davon überzeugt, dass Renate Künast in Berlin gegen Wowereit gewinnen wird.

Was ist im Norden drin?

Roth: In Bremen wollen wir gestärkt Rot-Grün weiterführen. Und in Mecklenburg-Vorpommern wollen wir endlich in den Landtag einziehen.

Wann ist Deutschland reif für einen grünen Bundeskanzler?

Roth: In Baden-Württemberg ist gerade das scheinbar Unmögliche möglich geworden. Warum sollte das eines Tages nicht auch auf Bundesebene so sein?