Staatsrechtler bezweifeln Rechtmäßigkeit der Kraftwerks-Abschaltungen. CDU in Hamburg und Niedersachsen fordert raschen Atomausstieg

Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angekündigte Kehrtwende in der Energiepolitik könnte rechtswidrig sein. Mehrere Staatsrechtler bezweifeln, dass es eine Rechtsgrundlage dafür gibt, um die ältesten sieben Kernkraftwerke sofort vom Netz zu nehmen und die Laufzeitverlängerung zu suspendieren. Der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier stufte das Moratorium sogar als "eindeutig verfassungswidrig" ein.

Auch die Opposition reagierte skeptisch auf den Vorstoß der Bundesregierung: "Frau Merkel steht auf rechtlich wackeligem Boden", sagte Hans-Josef Fell, Energieexperte der Grünen-Bundestagsfraktion, dem Hamburger Abendblatt. Merkels Anordnung zur vorläufigen Abschaltung verstoße gegen das vom Parlament beschlossene Atomgesetz. "Es ist denkbar, dass die Atomkraftbetreiber erfolgreich dagegen klagen und auch noch Anspruch auf Schadenersatz erhalten", sagte Fell.

Die Grünen wollen deswegen heute im Bundestag über einen Änderungsentwurf des Atomgesetzes abstimmen lassen. "Darin verlangen wir die dauerhafte Abschaltung der sieben ältesten Meiler und von Krümmel", sagte Fell. "Dann werden wir sehen, wie ernst es Schwarz-Gelb mit der Sicherheit der Meiler meint."

Nach einem Bericht des "Kölner Stadt-Anzeigers" hatten auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Siegfried Kauder (CDU), in der Unionsfraktion rechtliche Bedenken dagegen geäußert, vorübergehend Atomkraftwerke ohne Zustimmung des Bundestages abzuschalten. Lammert lässt nun prüfen, ob es dazu "weiterer korrigierender gesetzlicher Regelungen" bedürfe.

Merkel bekräftigte dagegen, dass das am Dienstag beschlossene Moratorium auch ohne Parlamentsbeschluss rechtmäßig sei. Eine Befassung des Bundestages sei nicht notwendig, weil dafür das bestehende Atomgesetz "im Vollzug der Länder umgesetzt wird", sagte Merkel in einem RTL-Interview. "Wir haben ein Moratorium verhängt, und das ist eine politische Aussage gewesen", betonte sie. Eine Erhöhung der Strompreise schloss Merkel nicht aus. Durch das Moratorium erwarte sie aber keine dramatischen Preisveränderungen. Stärkere Sicherheitsauflagen würden allerdings auch bedeuten, "dass da auch der Strom teurer wird". Sicherheit habe ihren Preis. "Aber ich glaube, den bezahlt jeder gerne", sagte sie.

Die Bundesregierung beruft sich bei den Kraftwerks-Abschaltungen auf den Paragrafen 19 des Atomgesetzes, demzufolge die Aufsichtsbehörden prinzipiell anordnen können, den Betrieb eines Meilers einzustellen. Die Regelung sei aber für konkrete Gefahrensituationen wie etwa einen Störfall gedacht, sagte Joachim Wieland von der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. "Alles, worüber jetzt diskutiert wird, wie die prinzipielle Möglichkeit von Terroranschlägen, Flugzeugabstürzen oder Naturkatastrophen, ist ja nicht neu."

Das zeitweilige Widerrufen der Betriebsgenehmigung setze eine akute Gefährdung voraus, sagte der Staatsrechtler Papier. Diese sei im Augenblick nicht erkennbar. "Es wäre schon schwierig zu erklären, warum man die Gefährdung jetzt anders bewerten sollte als noch vor ein paar Wochen", sagte Papier.

Die Regierung hat ihren juristischen Irrtum inzwischen offenbar bemerkt. Umweltminister Röttgen (CDU) bezeichnet das Moratorium nun nur als politischen Begriff. Regierungssprecher Steffen Seibert bestritt gestern gar, dass die Kanzlerin die Aussetzung des Gesetzes zur Verlängerung der Laufzeiten gemeint habe. Wörtlich hatte Merkel allerdings am Montag in einer Pressekonferenz gesagt: "Es gibt bei dieser Sicherheitsüberprüfung keine Tabus. Genau aus diesem Grunde werden wir die erst kürzlich beschlossene Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke aussetzen. Und dies ist ein Moratorium, und dieses Moratorium gilt für drei Monate."

Innerhalb der Union bahnt sich nun ein grundlegender Stimmungsumschwung gegen die Atomenergie ab. Die Hamburger CDU verlangt eine Rücknahme der Laufzeitverlängerung und eine dauerhafte Schließung der sieben ältesten Reaktoren sowie von Krümmel. "Das nukleare Zeitalter ist vorbei, auch wenn anderswo weiter Atomkraftwerke gebaut werden", teilten der CDU-Landesvorsitzende Frank Schira und sein Stellvertreter Rüdiger Kruse gestern mit. Solange ein Unglück möglich bleibe, werde es irgendwann eintreten. Um dies auszuschließen, "müssen wir uns von der Kernenergie verabschieden", hieß es weiter.

Auch Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister fordert ein schnelleres Ende der Atomenergie-Nutzung in Deutschland. "Die Beherrschbarkeit der Kernenergie ist durch die Entwicklung in Japan nachhaltig infrage gestellt worden", sagte der CDU-Politiker gestern in einer Regierungserklärung. "Die Kernenergie hat jetzt erst recht keine wirkliche Zukunft mehr. Der geordnete und planvolle Ausstieg bleibt richtig." Bei jedem einzelnen Kraftwerk müsse nun ein individueller Sicherheitscheck erfolgen.