Bundeswehr in der Krise: Feldpost-Affäre, mögliche Vertuschung um einen erschossenen Soldaten, Meuterei auf der “Gorch Fock“.

Hamburg/Glücksburg/Ushuaia. Eine angebliche Meuterei auf der "Gorch Fock“, mögliche Vertuschung im Fall eines erschossenen Soldaten und keine Spur im Skandal um geöffnete Feldpost – in der Bundeswehr reiht sich Affäre an Affäre. Das Segelschulschiff "Gorch Fock“, der Stolz der Marine, legte am Donnerstag im argentinischen Hafen Ushuaia an. Dort wartet nun die Besatzung auf ein Team von Marine-Ermittlern, das sich rasch auf den Weg machen will. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) sicherte „rückhaltlose Aufklärung“ der Affäre zu. Im Fall eines Soldaten, der vor Weihnachten erschossen in Nordafghanistan aufgefunden worden war, ermittelt die Staatsanwaltschaft Gera wegen fahrlässiger Tötung. „Aus der Waffe eines anderen Soldaten soll sich ein Schuss gelöst haben“, sagte der leitende Oberstaatsanwalt aus Gera, Thomas Villwock. Die wahren Umstände des Unfalls sind noch immer nicht öffentlich.

Von Abgeordneten der CDU und den Grünen im Verteidigungsausschuss des Parlaments kommt deshalb Kritik an einer mangelhaften Informationspolitik des Ministeriums, wie die „Stuttgarter Zeitung“ (Freitag) berichtet. Weiter unklar ist, wer hinter der heimlich geöffneten Feldpost in Afghanistan steckt. Guttenberg verwahrte sich gegen Pauschalurteile über Soldaten der Bundeswehr. „Es ist die ganz überwältigende Mehrzahl, die einen erstklassigen Dienst leistet.“ Die SPDsieht nun den Verteidigungsminister in der Pflicht. „Guttenberg muss die drei Vorgänge zur Chefsache machen“, sagte SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold der Nachrichtenagentur dpa. Der Minister müsse am nächsten Mittwoch vor dem Verteidigungsausschuss des Bundestags umfassend Auskunft geben.

Guttenberg versprach eine vollständige Aufklärung des tödlichen Sturzes einer Offiziersanwärterin auf der „Gorch Fock“ im vergangenen November. Die 25-Jährige war aus der Takelage gestürzt. Gegen vier Kadetten steht der Vorwurf der Meuterei im Raum. Die trauernden Kameraden sollen gedrängt worden sein, wieder in die Masten zu klettern, obwohl sie das nach dem Unglück nicht mehr wollten. Der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hellmut Königshaus, nahm die Offiziersanwärter in Schutz: „Es gab keine Meuterei“, sagte er dem Fernsehsender N24. Einige Kadetten hätten gesagt, sie wollten nicht nicht zum Tagesbetrieb übergehen. „Das wurde von der Schiffsführung nicht gutgeheißen.“ Nach dem Tod der Kadettin hatten Mitglieder der Besatzung Vorgesetzten Versagen vorgeworfen. Zudem sei das Vertrauen zwischen der Stammmannschaft und den Offiziersanwärtern gestört gewesen.

Der Wehrbeauftragte hatte in einem Brief an den Verteidigungsausschuss über die Meuterei-Vorwürfe berichtet. Die Ermittler müssen auch Vorwürfen nachgehen, die Stammbesatzung habe Offiziersanwärter bedroht und sexuell belästigt. An Bord der „Gorch Fock“ befindet sich derzeit die Stammcrew unter Kapitän Norbert Schatz. Die Ausbildung war nach dem tödlichen Sturz ausgesetzt worden. Zu dem Fall sagte der SPD-Abgeordnete Arnold, mit Meuterei habe das nichts zu. Die Offiziersanwärter hätten ihre Pflicht erfüllt - „nach dem Prinzip der inneren Führung unsinnige oder gar rechtswidrige Befehle infrage zu stellen“. Arnold kritisierte auch, dass zwei Tage nach dem Unfall am 7. November auf dem Schiff Karneval gefeiert worden sei. Kritik kam auch von der Linken. „In der Bundeswehr scheint sich ein bedenklicher Trend auszubreiten, die parlamentarische Kontrolle zu unterlaufen“, erklärte deren verteidigungspolitischer Sprecher Paul Schäfer. Während der Aufarbeitung der Meuterei-Vorwürfe sei Betroffenen angeblich befohlen worden, Dokumente zu vernichten. Mit Blick auf den Tod eines Soldaten kurz vor Weihnachten verwies Guttenberg auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. „Die Ergebnisse haben wir jetzt abzuwarten.“

Inzwischen gibt es Berichte, ein Soldat habe im Spiel mit seiner Pistole auf den Hauptgefreiten gezielt und abgedrückt. Der 21-Jährige war kurz vor dem Weihnachtsbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ums Leben gekommen. Laut „Stuttgarter Zeitung“ widersprechen Mitglieder des Verteidigungsausschusses der Darstellung des Ministeriums, sie seien am 21. und am 27. Dezember über die wahren Umstände des Todes informiert worden. „Wir haben bis zum vorgestrigen Mittwoch nur die Information gehabt, ein Soldat sei durch einen Schuss verletzt worden und bei der Notoperation verstorben“, zitierte die Zeitung Aussagen aus den Reihen der Grünen und der CDU im Ausschuss. Nun gebe es Hinweise, dass bis zu zwölf Soldaten beteiligt gewesen seien. Nach den Informationen soll bereits am 27. Dezember ein Untersuchungsbericht der deutschen Militärpolizei vorgelegen haben. Verteidigungsstaatssekretär Thomas Kossendey habe noch am Mittwoch die Frage verneint, dass es so einen solchen Bericht gebe, heißt es weiter aus dem Ausschuss.

Nach dpa-Informationen kommen die Ermittler darin zu dem Schluss, dass es sich „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ um einen Unfall handelte. Auch der SPD-Politiker Arnold warf dem Ministerium vor, den Ausschuss falsch informiert zu haben. Arnold verlangte auch Auskunft darüber, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Soldaten und der Öffnung der Feldpostbriefe gebe. Möglicherweise wurde Post von Soldaten sogar in großem Stil und systematisch geöffnet. Guttenberg hatte am Mittwoch nach einem Hinweis des Wehrbeauftragten Ermittlungen eingeleitet. Zahlreiche Soldaten des Ausbildungs- und Schutzbataillons hatten bei ihm über geöffnete Post geklagt. Umschläge seien ohne Inhalt zu Hause angekommen.

Lesen Sie dazu auch den aktuellen Abendblatt-Bericht:

Politiker bestürzt über Vorfälle auf "Gorch Fock"

Die Meuterei-Vorwürfe auf dem Marine-Segelschulschiff "Gorch Fock" sorgen für Entsetzen. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Ulrich Kirsch, reagierte bestürzt, warnte aber vor Vorverurteilungen: "Manchmal stellt sich am Ende manches anders dar als am Anfang", sagte Kirsch dem Abendblatt. "Diejenigen, die ihren Dienst ordentlich versehen haben, müssen wir schützen. Diejenigen, die aber ein Fehlverhalten an den Tag gelegt haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden." Man müsse prüfen, ob Sicherheitsbestimmungen verletzt worden seien. "Wenn es so war, dann geht das zulasten der Ausbilder", stellte Kirsch fest.

Nachdem im November eine 25-jährige Offiziersanwärterin aus der Takelage gestürzt und tödlich verunglückt war, hatten sich andere Kadetten geweigert, ebenfalls in die gut 30 Meter hohen Masten zu klettern. Von Ausbildern kam dann massiver Druck, gegen vier Kadetten wurde an Bord der Vorwurf von Meuterei laut, wie jetzt aus einem Bericht des Wehrbeauftragten hervorgeht.

Der Bundeswehrverbandsvorsitzende Kirsch stellte sich zugleich hinter das Ausbildungskonzept auf dem Segelschulschiff. "Es gibt keine bessere Ausbildung als auf einem Schiff, wenn es um den Crew-Gedanken geht. Das hat sich über viele Generationen bewährt, und es wird sich auch in Zukunft bewähren", so Kirsch. Die "Gorch Fock" sei ein Markenzeichen der Marine. "Es ist bedauerlich, dass dieses tolle Schiff so schlechte Schlagzeilen bekommt", sagte er weiter. "Aber wo Menschen sind, menschelt es auch."

Auch Politiker von FDP und Union verlangen die Aufklärung der Meuterei-Vorwürfe auf der "Gorch Fock". Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ernst-Reinhard Beck, sagte dem Abendblatt: "Die Frage ist nicht, ob die Ausbildung zu gefährlich ist. Entscheidend ist vielmehr: Ist die Ausbildung auf einem Segelschiff heute noch zeitgemäß oder nicht?" Der Hamburger FDP-Bundestagsabgeordnete Burkhardt Müller-Sönksen, Mitglied im Verteidigungsausschuss, betonte im Abendblatt: "Die Marine war bisher bekannt für ihre vorbildliche menschliche Führung." Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, müssten sie mit entsprechender Härte verfolgt werden.

Der tödliche Unfall in Brasilien war bereits der siebte seit Indienststellung des Dreimasters vor fast 53 Jahren, und der zweite unter dem Kommando von Kapitän zur See Norbert Schatz, seit dieser 2006 die Führung übernommen hatte. 2008 war die Offiziersanwärterin Jenny B. kurz vor ihrem 19. Geburtstag nachts vor der Insel Norderney über die 1,60 Meter hohe Reling in die Nordsee gestürzt. Auch 2002 und 1998 waren bereits junge Soldaten aus der Takelage gefallen und an ihren Verletzungen gestorben.