Hans-Jochen Vogel hatte viele Ämter inne: Berliner Bürgermeister, Bundesjustizminister, Vorsitzender der SPD und auch noch deren Fraktionschef war er. Immer wieder setzt sich der heute 84 Jahre alte Vogel für die Opfer der Nazi-Diktatur ein.

Hamburger Abendblatt:

Herr Vogel, Sie engagieren sich seit Langem auch für die Betroffenen von Zwangssterilisierung. Erst Jahrzehnte nach der Nazi-Zeit gab es für diese Menschen Mitgefühl vonseiten der Regierung und finanzielle Hilfe. Warum hat das so lange gedauert?

Hans-Jochen Vogel:

Diese Frage richtet sich zum einen an die politisch Verantwortlichen - also auch an mich. Es mangelte eine lange Zeit an Sensibilität und an öffentlichen Diskussionen. Nicht nur in der Politik, sondern auch vonseiten der Ärzte. Eine Rolle spielte wohl auch, dass die Wurzeln des Erbgesundheitsgesetzes bis weit vor 1933 zurückreichen. Schon 1920 erschien eine Publikation eines Juristen und eines Arztes unter dem Titel "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens". Diese Ansichten der Wissenschaft wurden später vom NS-Gewaltregime aufgegriffen ...

... und mit dem "Erbgesundheitsgesetz" von 1933 wurde die Menschenwürde dann ganz offiziell missachtet.

Vogel:

Richtig. Menschen wurden weggeworfen. Wer nach der Ideologie des Regimes nicht "zweckdienlich" war, dem wurde das Leben abgesprochen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns immer wieder an die zentrale Maxime des Grundgesetzes der Bundesrepublik erinnern: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ist sie heute in Deutschland gefährdet?

Vogel:

Insgesamt nicht. Aber bei manchen bioethischen Debatten droht der Unterschied zwischen Mensch und Sache und zwischen Zeugung und Produktion unscharf zu werden. Das ist schon eine Gefahr - auch wenn sie in keiner Weise vergleichbar ist mit der Ideologie des NS-Gewaltregimes.

In der Semantik dieser Debatte sind heute noch Spuren der Rhetorik der Nationalsozialisten?

Vogel:

Die Sprache im heutigen Deutschland unterscheidet sich fundamental von der Propaganda der Nazi-Ideologie. Aber es wird bei dieser Debatte gelegentlich von Maßnahmen gesprochen, die auf eine Produktionskontrolle, Produktionsverbesserung und die Aussonderung fehlerhafter Produkte hinauslaufen. Da sollten wir sensibel sein.