Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Verfassungsgerichts, spricht über Volksabstimmungen, Datenschutz im Netz und die Rolle der Bundeswehr.

Karlsruhe. Ferdinand Kirchhof ist ein zurückhaltender Mann mit klaren Positionen. Im Abendblatt-Interview legt er seine Vorstellungen offen, wie die Rechtsordnung an neue Herausforderungen angepasst werden sollte.

Hamburger Abendblatt: Professor Kirchhof, wie intensiv nutzen Sie das Internet?

Ferdinand Kirchhof: Ich nutze juristische Datenbanken und Nachrichtenportale.

Sind Sie mit sozialen Netzwerken wie Facebook vertraut?

Kirchhof: Nein. Ich habe ein gesundes Misstrauen gegenüber derartigen Portalen. Denn was einmal im Internet veröffentlicht ist, kann immer wieder abgerufen werden und bleibt daher präsent.

In den Achtzigerjahren sind die Bürger gegen die Volkszählung auf die Straße gegangen, jetzt machen sie ihre persönlichen Daten freiwillig für alle zugänglich. Ein Fortschritt?

Kirchhof: Positiv ist die über das Internet eröffnete Möglichkeit der schnellen und unkomplizierten Kommunikation. Das Problem liegt allerdings darin, dass der Nutzer bei der Eingabe persönlicher Daten dauerhaft Spuren seiner Persönlichkeit hinterlässt, die von anderen missbräuchlich verwendet werden können.

Unternehmen sammeln Daten auch, um Profile zu erstellen. Ist der Gesetzgeber gefordert?

Kirchhof: Darin liegt ein grundsätzliches Problem, das mich sehr beschäftigt: Die Grundrechte sind als Abwehrrechte gegen den Staat im Grundgesetz verankert worden. Es stellt sich aber die Frage, ob und wie der Staat reagieren muss, wenn durch Private in das Persönlichkeitsrecht oder die Freiheitsrechte der Bürger eingegriffen wird. Dabei wird noch zu klären sein, ob zum Beispiel für private Unternehmen eine Bindung an die Grundrechte zu bejahen ist.

An welche Fälle denken Sie?

Kirchhof: Nehmen wir die Telekommunikationsfreiheit. Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, hatte das Telefon noch eine Drehscheibe, und die Telekommunikation war über die Deutsche Post staatlich organisiert. Heute wird dagegen der Handy- und Computerverkehr über private Dienstleister abgewickelt. Wenn wir das Grundrecht auf Telekommunikationsfreiheit nur staatsgerichtet verstünden, liefe es fast leer.

Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat in einem Debattenbeitrag für das Hamburger Abendblatt eine grundlegende Modernisierung des Datenschutzrechts angemahnt. Hat sie Ihre Unterstützung?

Kirchhof: Eine Verbesserung und Anpassung des Persönlichkeitsschutzes an die technische Entwicklung ist zu befürworten.

Kann der Staat mehr tun, als einen Rahmen zu setzen, der mit freiwilligen Selbstverpflichtungen ausgefüllt wird?

Kirchhof: Gesetze sind demokratisch legitimiert; auf ihrer Grundlage können normierte Rechte und Pflichten gerichtlich erstritten werden. Sie sind daher meines Erachtens effizienter als freiwillige Selbstverpflichtungen, bei denen die Gefahr besteht, dass Unternehmen allzu sehr eigene Belange in den Vordergrund stellen.

Welche Gesetze haben Sie im Blick?

Kirchhof: Unternehmen könnten gesetzlich verpflichtet werden, die Erlaubnis von Bürgern einzuholen, bevor sie deren Daten verwenden.

Nach der Veröffentlichung von US-Depeschen über die Plattform WikiLeaks rechnen Datenschützer damit, dass noch viel mehr im Internet landet - bis hin zu Krankenakten einfacher Bürger. Teilen Sie diese Befürchtung?

Kirchhof: Das Internet hat die Tendenz, sich immer mehr auszuweiten, sodass erhöhte Wachsamkeit geboten erscheint.

Wie bewerten Sie das Tun von WikiLeaks? Ein Akt des Terrors, wie mancher amerikanische Politiker urteilt?

Kirchhof: Dies zu bewerten, ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.

Hat WikiLeaks nationales oder internationales Recht gebrochen?

Kirchhof: Gegenwärtig verfolge ich mit Interesse die Bemühungen der US-Regierung um eine rechtliche Einordnung dieses Vorgangs.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Sicherheitsbehörden in diesem Jahr ein Instrument zur Terrorabwehr genommen: die Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten. Rechnen Sie mit Schuldzuweisungen, wenn es in Deutschland zu einem Anschlag kommt?

Kirchhof: Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich untersagt, sondern lediglich den verfassungsrechtlichen Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sie erfolgen kann. Kritik an unseren Entscheidungen müssen wir als Richter aushalten.

In welcher Form wäre die Vorratsdatenspeicherung erlaubt?

Kirchhof: Die Vorratsdatenspeicherung für sechs Monate kann unter strengen Voraussetzungen durchaus im Einklang mit dem Grundgesetz stehen; etwa wenn es um die Aufklärung besonders schwerer Straftaten oder um die Gefahrenabwehr geht. Nachrichtendienste und Polizei dürfen auf die Telefon- und Internetverbindungsdaten zurückgreifen, wenn beispielsweise Leib und Leben von Menschen oder der Bestand des Staates bedroht sind.

Das Einfrieren von Verbindungsdaten aus konkretem Anlass, wie es der Bundesjustizministerin vorschwebt, wäre also möglich.

Kirchhof: Ja, unter bestimmten Voraussetzungen. Nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist demgegenüber das anlasslose, pauschale Speichern von Daten.

Ist ein Einsatz der Bundeswehr im Inland zur Terrorabwehr möglich, ohne die Verfassung zu ändern?

Kirchhof: Die Bundeswehr darf im Innern nur eingesetzt werden, wenn das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt, so zum Beispiel in Katastrophenfällen. Zu denken wäre hierbei an einen terroristischen Angriff auf ein Kernkraftwerk. Im Übrigen vertrete ich als Wissenschaftler die Auffassung, dass wir über eine Änderung des Grundgesetzes nachdenken sollten, um effizienter auf neue Bedrohungslagen reagieren zu können.

Woran denken Sie?

Kirchhof: Die Bundeswehr verfügt über die Organisation zur schnellen Einrichtung von Einsatzzentren. Sie könnte bestimmte polizeiliche Aufgaben übernehmen - etwa den Schutz gefährdeter Objekte.

Darf die Bundeswehr Passagierflugzeuge abschießen, die von Terroristen entführt worden sind?

Kirchhof: Sie sprechen das Luftsicherheitsgesetz an, über das das Plenum des Bundesverfassungsgerichts im kommenden Jahr entscheiden wird. Dem will ich hier nicht vorgreifen.

Verfassungsrechtliche Zweifel weckt auch die Zusammenlegung von Bundeskriminalamt und Bundespolizei zu einer Art deutschem FBI. Teilen Sie die Bedenken?

Kirchhof: Beide sind nach dem Grundgesetz Bundesorganisationen. Ihre Zusammenlegung kann eine Option für eine effizientere Organisation und Einsatzbereitschaft sein.

Professor Kirchhof, viele Bürger wünschen sich mehr direkte Demokratie. Mangelt es Deutschland an Volksentscheiden?

Kirchhof: Vor dem Hintergrund der Ereignisse vor 1945 hat der Verfassungsgesetzgeber damals gut daran getan, eine sehr strikte repräsentative Demokratie zu begründen. Das Grundgesetz sieht eine direkte Beteiligung der Bürger nur für den Fall einer Neugliederung der Bundesländer vor. Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung ist es aber gut vorstellbar, mehr plebiszitäre Elemente in unsere Verfassung aufzunehmen. Auf Gemeinde- und Landesebene sind damit gute Erfahrungen gemacht worden.

Was schwebt Ihnen vor?

Kirchhof: Eine direkte Gesetzgebung durch das Volk ist in Anbetracht der Komplexität der bundespolitischen Themen nicht vorstellbar. Zu denken wäre aber bei geeigneten Themen an ein Modell, bei dem der Bundestag zunächst ein Gesetz beschließt, das anschließend durch ein Referendum ratifiziert werden muss. Ohne die Zustimmung des Volkes könnte das Gesetz dann nicht in Kraft treten.

Bei welchen Gesetzen ist ein solches Verfahren denkbar?

Kirchhof: Sinnvoll wäre es, Verfassungsänderungen von der Zustimmung des Volkes abhängig zu machen. Ein weiteres Beispiel könnte die Übertragung von Hoheitsrechten an europäische Institutionen sein. Mehr Zutrauen in die demokratische Mitwirkung bindet die Bürger enger an die Demokratie und führt zu größerer Akzeptanz der Gesetzgebung.

Die Hamburger wurden zur geplanten Schulreform des schwarz-grünen Senats befragt, den Stuttgartern aber bleibt ein Referendum zu Stuttgart 21 verwehrt. Ist das gerecht?

Kirchhof: Bei dem Projekt Stuttgart 21 besteht die Schwierigkeit, dass es in langjährigen Planfeststellungsverfahren entwickelt wurde. Als die Forderung nach mehr Partizipation der Bürger aufkam, gab es bereits ein fertiges, demokratisch legitimiertes Konstrukt. In Hamburg sollte dagegen über eine künftige, noch in der Entwicklung begriffene Schulreform entschieden werden; das Referendum kam somit hier früh genug.

Das Jahr 2011 bringt sieben Landtagswahlen und voraussichtlich einen Dauerwahlkampf, der wenig Raum für politisches Handeln lässt. Wäre es besser, Wahltermine zu bündeln?

Kirchhof: Unser bisheriges System des permanenten Wählens in unterschiedlichen Wahlperioden, das wesentlicher Bestandteil des Demokratieprinzips ist, hat sich bewährt. Es verdeutlicht für Bürger und Politik, dass die Staatsgewalt vom Volk ausgeht.

Am Bundesverfassungsgericht vollzieht sich ein Generationenwechsel. In Ihren Senat beispielsweise ist auf Vorschlag der Grünen die 46 Jahre alte Susanne Baer gewählt worden, die der autonomen Frauenbewegung entstammt. Ist das Gericht dabei, sich zu verändern?

Kirchhof: Sowohl eine Verjüngung des Gerichts als auch eine Erhöhung des Frauenanteils unter den Richterkollegen ist zu begrüßen und wird unsere Arbeit bereichern. Der politische Hintergrund der Wahl einer Richterin oder eines Richters am Bundesverfassungsgericht sollte jedoch nicht überschätzt werden. Verfassungsrichter arbeiten völlig unabhängig und entparteipolitisiert.

Hat sich schon einmal ein CDU-Politiker, dem Sie Ihr Amt zu verdanken haben, über ein Urteil beklagt?

Kirchhof: Niemals. Eine Einflussnahme unter Hinweis auf den Wahlakt wäre mit dem Amt eines Bundesverfassungsrichters als Hüter der deutschen Verfassung nicht in Einklang zu bringen. Seine Unabhängigkeit wird von der Politik respektiert.