US-Präsident Obama und Außenminister Westerwelle wollen bereits ab 2011 Truppen in Afghanistan reduzieren

Hamburg/Berlin. "Ihr müsst diesen Krieg in Afghanistan beenden!" Es sollen die letzten, sehr erregt gesprochenen Worte von Richard Holbrooke gewesen sein, US-Präsident Barack Obamas Afghanistan- und Pakistan-Beauftragten, bevor das Ärzteteam daranging, seine zerrissene Aorta zu operieren. Krisenmanager Holbrooke starb kurz drauf, und es hat den Anschein, als habe er vor seinem Tod noch sagen wollen, was ihm am wichtigsten war. Insgesamt läuft die Mission der Nato in Afghanistan nicht gut; sowohl in den USA als auch in Deutschland stehen die Zeichen mittelfristig auf Abzug.

In Berlin sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) in einer Regierungserklärung: "Ende 2011 werden wir unser Bundeswehr-Kontingent in Afghanistan erstmals reduzieren können." Westerwelle ging damit weiter als der Fortschrittsbericht der Bundesregierung, in dem es hieß, der Abzug sei zwar für Ende 2011 angestrebt, könne aber auch erst 2012 erfolgen. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) sagte bei seinem Kurzbesuch in Afghanistan laut "Spiegel Online", es gebe noch gar keine konkreten Pläne für den Abzug. Westerwelle dagegen erklärte, die Gebiete im Norden gehörten zu den ersten, die im ersten Halbjahr an die Afghanen übergeben würden. Der Außenminister wiederholte sinngemäß die umstrittene Einschätzung des früheren SPD-Verteidigungsministers Peter Struck, als er sagte, Deutschland verteidige am Hindukusch auch seine eigene Sicherheit.

US-Präsident Obama legte gestern seine überarbeitete Strategie für den Krieg in Afghanistan vor. Zuvor hatte er in einem Brief an Kongressabgeordnete erklärt, es gelinge zunehmend, die Aufständischen schrittweise zurückzudrängen. In dem Strategiebericht, den der Präsident in Auftrag gegeben hatte, hieß es, die Machtbasis von Taliban und al-Qaida sei ausgehöhlt. Die Führung von al-Qaida in Pakistan sei so schwach wie noch nie seit den Anschlägen von 2001. Die Truppenaufstockung um 30 000 Mann sei ein Erfolg gewesen.

Der Abzug der US-Soldaten könne daher wie geplant Mitte 2011 beginnen. Tempo und Umfang blieben allerdings unklar. Die Fortschritte seien "zerbrechlich und umkehrbar". Offenbar stellt die US-Regierung die wenigen positiven Entwicklungen bewusst in den Mittelpunkt, um Obamas umstrittenes Abzugsdatum rechtfertigen zu können. Derzeit sind rund 140 000 ausländische Truppen in Afghanistan stationiert - davon allein 100 000 US-Soldaten.

Der verhalten optimistische Bericht aus dem Weißen Haus wird jedenfalls durch andere Berichte aus Afghanistan konterkariert. In vertraulichen Dokumenten der 16 US-Geheimdienste, die von amerikanischen Zeitungen veröffentlicht wurden, wird ein sehr pessimistisches Bild der Lage gezeichnet. Das US-Verteidigungsministerium erklärte dazu, diese Berichte seien "nicht auf dem neuesten Stand". Inzwischen gebe es militärische Erfolge. Nato-Kommandeure vor Ort warnten allerdings, die Erfolge im Süden um die Taliban-Hochburg Kandahar seien nur vorläufiger Art, ob sie dauerhaft seien, werde man erst im Sommer wissen.

Der kanadische Brigadegeneral Dean Milner sagte, es sei "falsch zu sagen, wir hätten die Taliban besiegt". Nun gelte es, funktionierende zivile Strukturen aufzubauen, um die Rückkehr der Rebellen zu verhindern. Bislang sind die Taliban stets vor überlegenen Kräften ausgewichen, um später umso druckvoller zurückzukehren.

Die "New York Times" berichtete, im Norden Afghanistans, wo neben der US-Armee auch die Bundeswehr eingesetzt ist, breite sich der Einfluss der Taliban aus. "Die Lage im Norden ist viel schwieriger geworden", sagte ein westlicher Diplomat, es gebe dort "einen viel stärkeren Aufstand, als wir ihn je hatten". Offenbar gehen die militärischen Erfolge im Süden um Kandahar auf Kosten der Sicherheit im Norden. "Der Norden hat seine eigene Logik", sagte Pablo Percelski, Direktor des Roten Kreuzes in Nordafghanistan, "die Taliban sind nur ein kleiner Teil der Gleichung". Man müsse "das ganze Gewebe der Milizen" betrachten. So gebe es kriminelle Gruppen, die vor allem Geld von Zivilisten erpressten. Einige Milizen bestünden aus ehemaligen Widerstandskämpfern oder auch früheren Kriegsherren unter der Sowjetbesatzung, ferner gebe es Drogenbarone und bewaffnete Gruppen, die vom afghanischen Geheimdienst organisiert und finanziert würden.

Die Taliban haben sich im Norden inzwischen auch in Gebieten ausgebreitet, die bis dato ruhig waren. Der Aufstand umfasst neben den Paschtunen auch Tadschiken und Usbeken.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hielt eine seiner seltenen Pressekonferenzen in Kabul ab und erklärte, die Lage habe sich so verschlimmert wie seit dem Sturz der Taliban 2001 nicht mehr. Der Konflikt sei in eine "trübe Phase" getreten, sagte der Rotkreuz-Chef für Afghanistan, Reto Stocker. Milizen erstarkten, die Opfer unter der Zivilbevölkerung stiegen ständig. Ärzte würden bedroht, Patienten gelangten oft nicht in die Kliniken. Dennoch sei die Zahl der verwundeten Patienten, die 2010 ins Mirwais-Hospital in Kandahar eingeliefert worden seien, um 25 Prozent höher als 2009.