Am 13. November 2009 stieg Ex-Umweltminister Sigmar Gabriel zum Parteivorsitzenden der SPD auf. Die Bilanz einer einjährigen Amtszeit.

Berlin. Es war ein kalter grauer Novembertag, an dem Sigmar Gabriel die SPD wieder aufrichtete. Die Partei war bei der Bundestagswahl gerade auch auf katastrophale 23 Prozent abgestürzt, und den alten Parteivorsitzenden hatten die Delegierten, die nach Dresden gekommen waren, längst abgeschrieben. Dieser Franz Müntefering wirkte ja ohnehin nur noch wie ein Schatten seiner selbst; erschöpft, verbraucht, unfähig, den Genossen nach der erlittenen Niederlage neuen Mut zu machen.

Die blickten an jenem 13. November 2009 erst ungläubig, dann aber zunehmend fröhlicher nach vorn. Auf den Mann aus Goslar, den sie in den Jahren zuvor heimlich für ein Leichtgewicht gehalten hatten. Und - was unter Sozialdemokraten noch viel schwerer wog - für einen Egomanen. Und ausgerechnet dieser Mann holte sie jetzt aus ihrer Frustration und ihrem Selbstmitleid. Indem er ihnen schwungvoll Sätze zurief wie: "Nur wenn wir selber an uns glauben, glauben uns noch andere!" Oder: "Nur wenn wir uns etwas zutrauen, trauen die uns auch etwas zu!" Das war das Wunder von Dresden.

Morgen wird dieser Tag ein Jahr zurückliegen. Dann ist Sigmar Gabriel genau ein Jahr im Amt, und innerparteilich kann sich seine Arbeit durchaus sehen lassen. Die Flügelkämpfe, die man der SPD voraussagte, nachdem Gabriel, der ehemalige Bundesaußenminister und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier und die Parteilinke Andrea Nahles die Führungsspitze fast schon putschartig unter sich aufgeteilt hatten, sind ausgeblieben.

Weder Apathie noch Agonie haben in der Folge um sich gegriffen. In Nordrhein-Westfalen konnten die Sozialdemokraten mithilfe der Grünen im Mai sogar die schwarz-gelbe Landesregierung von Jürgen Rüttgers (CDU) ablösen. Auch bundesweit in den Umfragen ist es irgendwann bergauf gegangen, und irgendwann überflügelte Rot-Grün sogar die Regierungsparteien.

Als sich die SPD am 26. September dann erneut zu einem Parteitag versammelte - dieses Mal in Berlin -, da zeichnete der Parteivorsitzende bereits berauscht das Bild von einer eigenen Mehrheit mit den Grünen bei der Bundestagswahl 2013. "Wir haben doch gemerkt", rief Gabriel den Delegierten dieses Mal zu, "dass es viel Grund für Mut und Selbstbewusstsein gibt!" Mit der wachsenden Zustimmung zur SPD sei nämlich die Erinnerung der Menschen verbunden, "dass man besser regieren kann als diejenigen, die das gerade ableisten!" Und die Genossen klatschten dem Parteichef heftig Beifall, obwohl dem einen oder anderen schwante, dass Gabriel die Situation vielleicht nicht ganz richtig analysiert hatte. Und dass die SPD in den Umfragen vielleicht nur deshalb so gut abschnitt, weil sich die Regierungsparteien monatelang nicht einig gewesen waren und streckenweise geradezu fahrlässig herumgemurkst hatten. Laut sagen mochte das aber keiner.

Bis auf 29 Prozent hat sich die SPD in diesem Jahr berappelt. Beflügelt von der Entwicklung hatte man im Berliner Willy-Brandt-Haus schon die magische 30-Prozent-Marke ins Auge gefasst. In diesem Optimismus bestärkt von einem Parteivorsitzenden, der meinte, die Partei müsse sich nur die "Deutungshoheit" über die deutsche Politik zurückerobern, dann werde schon alles gut werden. Wenn Gabriel in den zurückliegenden Monaten verkündete, die SPD habe in vergangenen Jahren "Politikkonzepte entwickelt, die schon große Teile unserer Mitgliedschaft innerlich nicht akzeptiert haben und die unsere Wählerschaft in ihrem Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit verletzt haben", dann zielte das immer auf die vom SPD-Kanzler Gerhard Schröder und seinem damaligen Generalsekretär Franz Müntefering entwickelte Agenda 2010 und die verhassten Hartz-IV-Gesetze.

Und dann wagte es in der neuen, nach links gerückten Parteiführung nur einer, Gabriel zu widersprechen: der Bundestagsfraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, der sich in seiner neuen Position ein allseits bestauntes Gewicht erarbeitet hatte.

Jetzt ist Sigmar Gabriel ein Jahr im Amt, und jetzt ist alles beim Alten. Die SPD ist in den Umfragen wieder bei 23 Prozent angekommen. Manfred Güllner wundert das nicht. Güllner ist davon überzeugt, dass die SPD die falschen Themen anspricht. "Die Klage gegen die Energiebeschlüsse der Regierung oder die Kritik an den Hartz-IV-Sätzen", so der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, "scheinen nicht die Probleme zu sein, die vielen früheren SPD-Mitgliedern aus der Mitte der Gesellschaft wichtig sind." So habe die Parteiführung in der Sache Sarrazin schwere Fehler gemacht. Berlins ehemaliger Finanzsenator hatte große Teile der arabischen und türkischen Einwanderer als "weder integrationswillig noch integrationsfähig" bezeichnet und soll nun aus der SPD ausgeschlossen werden. Der Parteivorsitzende persönlich erklärte, Sarrazin vertrete ein hoffnungsloses Menschenbild, und deshalb wolle ihn die Partei "nicht länger in ihren Reihen" dulden.

Ein Jahr Sigmar Gabriel. Das waren vor allem zwölf Monate gute Laune im Willy-Brandt-Haus. Die Leute wollten keine gramgebeugten Sozialdemokraten, hatte der frisch gewählte Parteivorsitzende seinen Genossen in Dresden zugerufen: "Ich glaube, die Leute wollen etwas anderes. Sie wollen auch Optimismus und Tatkraft!"

Gabriel hat damals angekündigt, aus der SPD "eine Politikwerkstatt für den gesellschaftlichen Fortschritt" machen zu wollen. "Wir laden alle ein, die an einer solidarischen, freien, aber auch verantwortungsbewussten Gesellschaft mitarbeiten wollen", hat er damals erklärt. Tatsächlich hat es seitdem ein paar Symposien im Willy-Brandt-Haus gegeben. Mal zur Finanzpolitik, mal zur Lage in Afghanistan. Auch mit Kommunalpolitikern veranstalten Gabriel und seine Generalsekretärin Nahles Konferenzen. Alle sollen das gute Gefühl haben, dabei zu sein. Ob das reicht, werden die Landtagswahlen im kommenden Jahr zeigen. Baden-Württemberg wird der erste Prüfstein.