Merkel und Sarkozy stoßen bei Gipfel in Brüssel mit Forderung nach Entzug des Stimmrechts für Defizitsünder auf Widerstand. Streit um EU-Haushalt

Brüssel. Sie hatte stundenlang telefoniert, an manchen Tagen bis tief in die Nacht. Gestern war Erntetag. Kanzlerin Angela Merkel konnte sich, so zeichnete sich jedenfalls bis zum späten Abend immer deutlicher ab, beim EU-Gipfel in Brüssel mit ihrer wichtigsten Forderung durchsetzen: Die EU-Länder sind trotz erheblicher Bedenken in einigen Hauptstädten bereit, der von Merkel geforderten Änderung im EU-Vertrag zuzustimmen, um einen dauerhaften finanziellen Hilfsmechanismus für hoch verschuldete Euro-Länder nach 2013 einzurichten.

"Die Regierungschefs haben erkannt, dass Merkel diese Änderung braucht, und sie wissen auch, dass es ohne Merkel nicht geht", sagte ein hoher EU-Diplomat, der an den Verhandlungen beteiligt war. Jetzt soll ein Prüfauftrag für Vertragsänderungen erteilt werden. Konkret: Die Brüsseler Juristen untersuchen, wie der neue Rettungsmechanismus für Pleite-Staaten konkret aussehen könnte und wie Korrekturen im EU-Vertrag durchgeführt werden könnten. Im Gegenzug will Berlin einer Reform des Stabilitätspaktes zustimmen, die von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy vorgeschlagen worden war.

Die wichtigste Änderung: Künftig sollen auch Länder bestraft werden, wenn ihre Neuverschuldung zwar unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, sie aber zu wenig tun, um einen "ausgeglichenen Haushalt" zu erreichen. Neu ist auch, dass die Gesamtverschuldung eines Landes stärker berücksichtigt werden soll.

Mit ihrer zweiten Forderung, dem vorübergehenden Entzug der Stimmrechte für chronische Defizitsünder, konnte sich Merkel aber nicht durchsetzen. Die EU-Außenminister hatten dies bereits am Montag abgelehnt. Zahlreiche EU-Regierungschefs bekräftigten diese Position gestern noch einmal. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk nannte die deutsche Forderung "exotisch und wenig realistisch". EU-Kommissionschef José Manuel Barroso betonte: "Das ist nicht akzeptabel, das ist nicht realistisch." Merkel dagegen wollte mit dem geplanten Stimmrechtsentzug die Strafen für Defizitsünder verschärfen. Die kleineren EU-Länder fürchteten aber, dass der Entzug von Stimmrechten nur bei ihnen und nicht bei den großen Mitgliedsländern angewendet würde.

In Brüssel hieß es gestern zudem, Merkel hätte besser auf möglichst frühe Strafen für Defizitsünder setzen sollen anstatt auf harte Strafen, die erst sehr spät oder womöglich niemals angewendet würden. Wichtiger als der Stimmrechtsentzug war Merkel die Einrichtung eines dauerhaften "Krisenbewältigungsmechanismus", der es erlaubt, für Pleiteländer einzutreten, die finanzielle Hilfe benötigen. Anders als bei dem Hilfspaket für Griechenland sollen nach Vorstellungen Merkels künftig aber nicht nur die Steuerzahler, sondern auch private Gläubiger bei Rettungsaktionen mithaften, indem sie etwa auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten.

Der Gipfel hatte mit einem handfesten Streit um Milliarden begonnen. Die Regierungschefs von elf Staaten drohten nach einem heftigen Wortwechsel mit dem Präsidenten des Europaparlaments, Jerzy Buzek, mit einer Blockade des EU-Haushalts 2011. Dieser soll spätestens in drei Wochen beschlossen sein. Anschließend verfassten sie nach Angaben von Diplomaten einen Brief an den Ratsvorsitzenden, in dem sie die Forderung des Europaparlaments nach einer Haushaltssteigerung um sechs Prozent auf gut 130 Milliarden Euro strikt ablehnten. Wegen eigener Haushaltsengpässe sei die Forderung der EU-Abgeordneten "besonders inakzeptabel". Der Brief wurde von den Regierungschefs aus Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich, Schweden, Slowenien und Tschechien unterschrieben.

Darin machen sie deutlich, dass sie nicht bereit sind, sich wie oft in der Vergangenheit mit dem Parlament "in der Mitte" zu treffen. Der Rat dürfe nicht über die angebotene Erhöhung um 2,9 Prozent hinausgehen.

Buzek hatte die Forderung des Parlaments als "maßvoll" verteidigt: "Das Parlament hat keine unvernünftigen Haushaltserhöhungen gefordert. Wir haben eine gemäßigte Position." Diplomaten sagten, es werde nun sehr schwierig, für das kommende Jahr einen Haushalt zu verabschieden.