Ex-Parteichef kritisiert den Rentenkompromiss: “Gut für die Glaubwürdigkeit ist das nicht“

Berlin/Hamburg. Der Brief kam zur Unzeit: " Jetzt die Dynamik der konzertierten Aktion (zur Erhöhung des Rentenalters) zu unterbrechen wäre ein defensives Signal", schrieb der frühere SPD-Chef Franz Müntefering gestern in einem Brief an seinen Nachfolger Sigmar Gabriel, der zeitgleich der "Süddeutschen Zeitung" zugespielt wurde. Müntefering hatte als Arbeitsminister in der Großen Koalition die umstrittene Erhöhung des regulären Renteneintrittsalters umgesetzt, von der sich die engere SPD-Führung erst gestern distanziert hatte. Nach ihren Vorstellungen soll die Rente mit 67 erst dann eingeführt werden, wenn mindestens 50 Prozent der 60- bis 64-Jährigen auch tatsächlich eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Derzeit sind dies nur 21,5 Prozent.

Müntefering wirft der Parteispitze vor, die Rentenposition aus taktischen, nicht aber aus sachlichen Gründen zu korrigieren. "Da alle Beteiligten die Wirkung eines Aussetzungsbeschlusses auf den Fortgang der Debatte in den kommenden Jahren, auch für die anstehenden Wahlkämpfe, kennen, ist das Augenzwinkern kaum zu übersehen. Gut für die Glaubwürdigkeit von SPD und Politik insgesamt ist das nicht."

Die Partei streitet, aber in einer Umfrage liegt sie erstmals vor der Union. Klaus-Peter Schöppner, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Emnid, sieht die SPD mit ihrem umstrittenen Rentenkurs sogar in einem Vorteil: "Die jetzt gefundene Kompromissformel der SPD bei der Rente mit 67 ist taktisch durchaus schlau, weil die Partei ihr Festhalten an der Reform an Bedingungen knüpft, die aus Wählerperspektive durchaus nachvollziehbar und richtig zu sein scheinen, aber dennoch nicht einzuhalten sind." Schöppner prophezeit: "Union und FDP könnten dadurch am Ende tatsächlich in eine Ecke gedrängt werden, aus der sich schwer Wahlkampf machen lässt. Andererseits bleibt fraglich, ob die SPD-Führung es überhaupt schafft, den Kompromiss auch mittelfristig geschlossen nach außen zu vertreten. Andernfalls dominiert wieder das Bild der Zerrissenheit", sagte er dem Hamburger Abendblatt.

Kein Zufall, dass Union und Linke sofort damit begannen, an der bei diesem Thema streitenden Partei zu zerren. Mit ihrer Haltung "disqualifiziert sich die SPD endgültig für jegliche Regierungsverantwortung", sagte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe. "Die von Union und SPD gemeinsam beschlossene schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters ab 2012 ist und bleibt richtig."

Linken-Fraktionschef Gregor Gysi bezeichnete den Rentenvorschlag der SPD als "Opposition gegen sich selbst". Der jetzige Plan der SPD werde an der Mehrheit von Union, FDP und Grünen scheitern, so Gysi. "Die Anhebung des Rentenalters ist ungerecht und unnötig. Wir brauchen andere Reformen", sagte er. "Aber in der SPD und bei den Grünen denken noch viele unsozialer." Die Linke will daher an dem Plan festhalten, einen Gesetzentwurf zur Aussetzung der Rente mit 67 im Bundestag zur Abstimmung zu bringen. Laut dem Referentenentwurf, der dem Abendblatt vorliegt, schlägt die Partei eine Verschiebung der Anhebung des Rentenalters um vier Jahre auf 2016 vor. Laut Parteikreisen strebt die Fraktion den 2. Dezember als Abstimmungstermin an.