Auf lokaler Ebene haben Volksentscheide Konjunktur - im Bund wären sie problematisch

Dannenberg. Demokratie kann auch wehtun. Wenn sich die Pflastersteine der Fußgängerzone durch Andrea Hesses Sandalen drücken und die Füße schmerzen. Seit neun Uhr morgens steht die 49-Jährige auf dem Wochenmarkt in Dannenberg. Vorgestern waren es sieben Stunden in Winsen, gestern der halbe Tag in Lüchow. Hesse und ihre Mitstreiter von der Bürgerinitiative "Volksbegehren für gute Schulen" reisen gerade zehn Tage durch Niedersachsen und sammeln Unterschriften. Für mehr "Zeit zum Lernen", für das "Abi nach 13 Jahren", für mehr "Integration". So steht es auf Plakaten der Initiative. "Sommertour" nennen Hesse und die anderen ihr Werben für einen Volksentscheid. Viele von ihnen haben sich extra Urlaub genommen.

Genau 608 731 Unterschriften brauchen Hesse und ihre Mitstreiter, damit die Menschen in Niedersachsen in einem Volksentscheid über die Zukunft ihrer Schule neu abstimmen. Seit November letzten Jahres sammeln sie schon. 130 000 haben sie. Noch bleiben sechs Monate Zeit. Volksentscheide haben Konjunktur. Das Nein zur Schulreform in Hamburg und das Ja zu einem strengen Rauchverbot in Bayern - die Republik erlebt die neue Macht der Bürger. 5675-mal ist es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zu einem Aufbegehren des Volkes gekommen - auf Landesebene führte das jedoch nur 18-mal zum Entscheid. Im Bund sind Plebiszite nicht vorgesehen.

"Entschuldigen Sie, darf ich Sie gerade mal ...", so beginnt Hesse an diesem Tag meistens ihr Werben. Manchmal gehen die Menschen einfach weiter, murmeln etwas wie "Nee, hab keine Kinder" oder "Kenn ich schon aus Hamburg". Die meisten aber bleiben stehen. Eine ältere Frau erzählt von ihren Enkeln, die zu wenig Zeit mit den Eltern verbringen, weil sie die Schule völlig vereinnahmt. "Sie müssen ja ganz schön standhaft sein", sagt sie und greift ihre Einkaufstüten. "Ja, wir kämpfen", antwortet Hesse.

Der Kampf für direkte Demokratie hat eine Lobby. Seit 22 Jahren setzt sich der Verein "Mehr Demokratie" für Volksentscheide auf Bundesebene ein. Aus gutem Grund, findet Vorstandssprecher Michael Efler: "Manche gesellschaftlichen Strömungen werden nicht von den Politikern wahrgenommen. Und das führt zu krassen Fehleinschätzungen darüber, was das Volk eigentlich will." Immer mehr Bürger hätten ein Bewusstsein dafür, dass sie politische Entscheidungen auch selbst in die Hand nehmen können.

Als sich Hesse und ihre Mitstreiter im Sommer 2009 dazu entschlossen, die Bildungspolitik ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen, hatten sie eine Menge Wut im Bauch. Gerade hatte die schwarz-gelbe Regierung das Abitur nach zwölf Jahren auch an den Gesamtschulen eingeführt. "Wir kannten die negativen Erfahrungen des Turbo-Abis schon von den Gymnasien", sagt Hesse. "Und trotzdem machte die Regierung mit dieser Politik weiter." Es waren Eltern, die am Anfang den Protest gegen die Schulreform organisierten. Jetzt hat die Initiative in vielen Gemeinden regionale Netzwerke. Schneeballprinzip - das ist die Wahlkampfstrategie der privaten Politiker.

Fluchtpunkt für Verfechter der Volksentscheide ist die Schweiz. In der Verfassung der knapp acht Millionen Eidgenossen ist die direkte Demokratie garantiert. Ob über geringere Steuern für Unternehmer oder härtere Strafen für Sexualstraftäter - seit 2000 haben sie 80-mal über nationale Belange abgestimmt. Allerdings: Auch die Gegner des Volksentscheids zeigen mahnend auf das Alpenland. Der Grund ist das Minarettverbot. Politiker der äußersten Rechten wollten den Bau von Minaretten per Gesetz verbieten. Der Volksentscheid darüber wandelte sich jedoch zu einer Abstimmung gegen die vermeintliche Islamisierung der Schweiz. Plakate mit bedrohlichen Motiven wurden aufgestellt, diffuse Ängste vor noch diffuseren Gefahren geweckt. Für Kritiker ist dieser Fall ein Paradebeispiel dafür, wie groß die Rolle von Emotionen sein kann, wenn eigentlich Vernunft entscheiden sollte.

Wenn es darum geht, viele Menschen von einer Sache zu überzeugen, ist Populismus nicht selten ein probates Mittel. Auch Gerd Langguth, Politikwissenschaftler der Universität in Bonn, stellt fest: "Bei Plebisziten besteht die Gefahr, dass sie sich nicht am Gemeinwohl orientieren." Muss man das Volk also vor sich selber schützen? "Demokratie ist nun mal ein Wagnis", sagt Michael Efler. "Man weiß nie, was am Ende dabei herauskommt."

Entscheidungen, die mehr als 80 Millionen Menschen betreffen, müssen gut und sorgfältig vorbereitet werden. "Wenn man die Abstimmungsverfahren so gestaltet, dass es im Vorfeld viele Diskussions- und Informationsmöglichkeiten gibt, sind die Menschen durchaus in der Lage, auch über kompliziertere Themen abzustimmen", ist Efler überzeugt. Politikwissenschaftler Langguth allerdings sieht ein anderes Problem: "Schwierige Fragen lassen sich oft nicht wie bei Volksentscheiden üblich mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Die Kunst der Demokratie besteht meist darin, sich auf Kompromisse zu einigen", sagt er.

Auf dem Wochenmarkt in Dannenberg gibt es an diesem Tag vor allem klare Meinungen. Wer gegen Gemüsehändler und Fischverkäufer um die Zeit der Menschen kämpft, kommt mit Kompromissen nicht weit. "Wir wollen nicht länger warten, bis die Politiker endlich auf uns eingehen", sagt Hesse zu einem Mittvierziger mit Sonnenbrille und rotem Polohemd. "Kinder brauchen mehr Zeit zum Lernen, aber auch dafür, sich in Vereinen zu engagieren." Der Mann unterschreibt. "Es läuft gut heute", sagt Hesse.