Makellose Bilanz nach 100 Tagen: Joachim Gauck hat dem Amt des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik die Autorität zurückgegeben.

Berlin. Mal schauen, wie lange er den noch macht, diesen Bescheidenheits-Kotau. Nach dem Motto: Für mich ist das alles noch neu, ich habe ja gerade erst angefangen - ich bin ja noch ein Bundespräsident in Ausbildung! Zuletzt hat er das in Dresden gesagt, vor zwei Wochen. Da war die 100-Tage-Marke zwar schon in Sicht, aber eben noch nicht erreicht.

Am 18. März ist Joachim Gauck ins höchste Staatsamt gewählt worden, und man merkt ihm das Staunen über diesen unverhofften Vorgang immer noch an. Gaucks Freude gibt dem Amt den Glanz zurück, den es in den Kalamitäten um die beiden Amtsvorgänger verloren gehabt zu haben schien. Man erinnert sich: Erst hatte Horst Köhler beleidigt abgedankt, und dann hatten die sprachlosen Bürger mit ansehen müssen, wie das Amt einem blassen Parteipolitiker in den Schoß fiel, der sich schnell als überfordert herausstellte. Christian Wulff brachte den Job so in Misskredit, dass darüber debattiert wurde, ob es nicht Zeit sei, ihn ein für alle Mal abzuschaffen.

Glücklicherweise ist man dieser Panikattacke nicht erlegen. Seit Gauck Bundespräsident ist - ein Mann, dem seine Gegner prophezeiten, er werde schnell genug über seine Eitelkeit stolpern -, hat das Amt zurück, was Köhler und Wulff verspielten: seine Autorität.

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Bisher ist die Bilanz makellos. Die schwierigsten Auslandsreisen hat Gauck bereits absolviert: nach Polen, Holland und Israel. Wohl wissend, dass dort auf die Goldwaage gelegt wird, was Deutsche bei ihren Staatsbesuchen sagen. Warschau wurde zu einem Heimspiel, weil Gauck als Ostdeutscher auftrat. Als er in Warschau Sätze sagte, die man jedem anderen als Floskeln ausgelegt hätte - "Für mich ist Polen das Musterland der Freiheit", "An Polenhabe ich gesehen, dass wir die Wahlhaben: Wollen wir weiter Untertan bleiben oder Bürger werden?" -, gab es Umarmungen. In den Niederlanden war man bewegt, weil dieser Bundespräsident selbst so erkennbar bewegt war, als er anlässlich des Nationalen Befreiungstages in Breda sprach.

In Israel zeigte sich Gauck angstfrei. Beim Besuch der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, wo viele seiner Vorgänger in Betroffenheitsroutine erstarrten, schrieb er keine Standardsätze ins Gästebuch, sondern diese: "Wenn du hier gewesen bist, sollst du wiederkommen. Zuerst nur: die Flut der Gefühle, erschrecken vor dem Ausmaß desBösen, mitleiden, mitfühlen, trauern - wegen eines einzigen Kinderschicksals oder wegen der Millionen unschuldiger Opfer. Und wiederkommen sollst du, weil auch du wissen kannst: Namen der Opfer - wie viele kennst du? Namender Täter - deutsche zumeist -, Verursacher, Vollstrecker, auch Namen von Schreckensorten wirst du dir einprägen und wirst erschrecken vor dem brutalen Interesse von Herrenmenschen. So wirst du dann hier stehen, und dein Gefühl, dein Verstand und dein Gewissen werden dir sagen: Vergiss nicht! Niemals. Und steh zu dem Land, das hier derer gedenkt, die nicht leben durften. Joachim Gauck". Später nahm er sich die Freiheit, Israels Siedlungspolitik zu kritisieren, denn selbst Freundschaft, so Gauck, könne "nicht die totale Übereinstimmung" sein.

Selbst die Bundeskanzlerin sollte inzwischen beruhigt sein. Joachim Gauck liest zwar nicht Vorgefertigtes ab wie Horst Köhler und auch nicht doppelt und dreifach Abgesichertes wie Christian Wulff, aber dafür vertraut er seinem Gefühl. Und das zu Recht, wie sich in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit herausgestellt hat.

Die Anziehungskraft Joachim Gaucks bestehe darin, dass man ihm das Vergnügen an der Freiheit anmerke, hat der Philosoph Rüdiger Safranski festgestellt. "Dieses Vergnügen ist bei ihm unverbraucht." Und: "Es hat etwas Ansteckendes, eine Figur des öffentlichen Lebens auf diese Weise agieren zu sehen."

Tatsächlich macht es Spaß, Joachim Gauck beim lauten Nachdenken zu beobachten - wenn er das, was ersagen will, zwischen Herz und Verstand abwägt. Am schönsten ist es, Gauck zuzuhören, wenn er, was er fast immer tut, aus eigener Erfahrung spricht. Wie neulich, anlässlich eines Abendessens, das er in Schloss Bellevue für Mitglieder des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste gegeben hat. Da hat er gesagt: "Wo Politik in die Kunst hineinwirkt, da möchte ich nicht mehr sein. Also meistens produziert die Kunst dann kurz gesagt Schrott. Man kann sich das natürlich auch schönreden und ganze Kunsttheorien entwickeln, nach denen diese Staatskunst wirkliche Kunst ist. Aber meistens hält sich ja so etwas nicht. Darüber könnten die anwesenden Künstler hier mehr sagen als ich. Wenn Agitprop produziert wird, haben wir das früher jedenfalls nicht für Kunst gehalten. Oder wenn Despotenköpfe in Granit gemeißelt werden."

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Gauck, das kann man immer wieder feststellen, ist kein Politiker, sondern ein Homo Politicus. Einer, der nicht nur gerne redet, sondern auch reden kann.

Möglicherweise treibt er die Redenschreiber, die ihm zur Verfügung stehen, zur Verzweiflung, möglicherweise sind sie froh, dass sie früh nach Hause gehen können. Man weiß es nicht. Man weiß nur, dass Joachim Gauck heute genauso redet wie früher. Das erkennt man am Stil. Und daran, dass es ihm immer gelingt, zumindest einen Schlenker zum Thema Freiheit einzubauen. Sogar auf dem Deutschen Seniorentag ist ihm das gelungen ("Die gewonnenen Lebensjahre schenken uns die Freiheit, unsere Fähigkeiten nun weiter zu erproben ...") und anlässlich des Gründungsjubiläums des Deutschen Chorverbandes auch, was, zugegeben, nicht ganz einfach war. Das wahre Singen, hat Gauck da gesagt, geschehe aus einem freien Impuls heraus, "und das gemeinsame Singen ist gegen niemanden gerichtet, sondern lädt alle ein, in aller Freiheit mit einzustimmen". Vermutlich hat er sich gelobt, diesen Freiheits-Schlenker immer und auf jeden Fall einzubauen. Und sei es auch nur als ironische Reverenz an jene, die versucht haben, ihn mit dem Argument aus dem Rennen zu werfen, er kenne ja nur dieses Thema.

Den Deutschen gefällt, was er macht und wie er es macht. 78 Prozent der Bürger bewerten ihren elften Bundespräsidenten einer aktuellen "Stern"-Umfrage zufolge positiv. 52 Prozent sind "zufrieden" mit der Arbeit von Joachim Gauck, 26 Prozent sogar "sehr zufrieden". Lediglich sieben Prozent sind "weniger zufrieden", zwei Prozent "gar nicht zufrieden". Man ahnt schon, um wen es sich bei dieser Minderheit handelt. Für die Linkspartei ist Joachim Gauck ja auch zwölf Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" noch ein rotes Tuch. Mit allen Mitteln haben Lafontaine, Wagenknecht und Co. versucht, Gauck als Bundespräsidenten zu verhindern. In ihrem Zentralorgan, dem "Neuen Deutschland", konnte man unmittelbar vor der Wahl lesen, Gauck hätte in den 90er-Jahren Unschuldige in den Selbstmord getrieben. O-Ton: Wie viele Menschen damals nach "teils banalen oder gar falschen Akten-'Enthüllungen' Suizid begangen" hätten, sei bislang nicht exakt ermittelt worden. In Rostock kämpfte die Linke erbittert gegen die Ernennung Gaucks zum Ehrenbürger seiner Vaterstadt. Die Linkspartei-Fraktion im Rostocker Stadtrat erklärte, sie könne "nicht erkennen, was Herr Gauck nachhaltig für Rostock hinterlassen hat, und zumal wir auch die Verbindung - auch die emotionale - mit Rostock infrage stellen". Dieser Vorbehalt, beteuerte die Fraktionsvorsitzende, habe selbstverständlich nichts mit Gaucks Arbeit als Stasibeauftragter zu tun! Wer's glaubt, wird selig.

Der Festakt soll im August stattfinden. Und dann wird sich auch die Linke daran erinnern lassen müssen, dass Gauck nicht nur 20 Jahre lang Pastor in Rostock-Evershagen gewesen ist, einer Plattenbauwüste am nordwestlichen Rand der Stadt, sondern dass es auch ebendieser Joachim Gauck war, der 1988 auf dem Rostocker Kirchentag rief: "Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen!" Diese Kampfansage an die SED und ihr verkommenes Politbüro hat damals bis in die letzte Ecke der DDR geschallt.

Morgen wird Gauck 100 Tage im Amt sein. Laut "Stern"-Umfrage finden 82 Prozent der Deutschen, dass er das Land gut und würdig vertritt. Ihnen gefällt, dass er zuweilen starke Gefühle zeigt. 60 Prozent fanden es richtig, dass Gauck Christian Wulffs Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" in "Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland" abwandelte. Einzig Gaucks indirekte Kritik an der Kanzlerin, die erklärt hatte, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen Staatsräson, stieß auf eine mehrheitliche Ablehnung.

Kurz vor seiner Wahl ins höchste Staatsamt hat Joachim Gauck gesagt, er müsse nun richtig an sich arbeiten, "mich beraten lassen", denn schließlich gehe es darum, "authentisch zu bleiben und doch nicht wie ein Provokateur zu wirken". In den ersten 100 Tagen hat das ganz wunderbar geklappt.