Karlsruhe will Parlamentariern in der Finanzkrise mehr Macht verleihen. Hamburger Grünen-Politiker Manuel Sarrazin hatte geklagt.

Berlin. Es gibt eine Anekdote, die Abgeordnete aller Parteien gern erzählen, wenn es um einen missglückten Fall von Parlamentsbeteiligung in Sachen Euro-Rettung geht: Das Jahr 2011 hatte gerade begonnen, und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war in Europas Machtzentren unterwegs, um die Linien für den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM festzuzurren. Im Februar stimmten sich die Länder der Euro-Zone über das 500 Milliarden Euro schwere Paket ab - aber der Deutsche Bundestag erfuhr lange nicht, um was es überhaupt ging. Jedenfalls nicht von der Bundeskanzlerin oder einem der deutschen Minister.

Im Gegenteil: Vor allem aus der Tagespresse lasen die Abgeordneten über die Vertragsentwürfe - und besorgten sich die Papiere dann von Angehörigen des Wiener Parlaments. Anders als die deutsche Regierung hatte sich Österreichs Kabinett nicht darauf berufen, dass der ESM-Vertrag keine EU-Angelegenheit sei und der Bundestag damit auch kein Recht auf Information habe. "Demütigend" sei das gewesen, hieß es bei den Grünen im Anschluss. Wie ein Bittsteller hatten sich die Parlamentarier gefühlt, obwohl es ja um sehr viel Geld ging und der Bundestag die Hoheit über den Haushalt hat.

Dass die Bundesregierung damit unrechtmäßig gehandelt hat, bestätigte gestern das Bundesverfassungsgericht. Künftig muss sie das Parlament bei Maßnahmen gegen die Euro-Krise besser informieren. Nicht nur beim ESM habe sie die Rechte des Bundestags missachtet, sondern auch beim Euro-Plus-Pakt, über den die Abgeordneten ähnlich spät informiert wurden. Die Entscheidung des Zweiten Senats wurde einstimmig gefällt.

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"Das Urteil ist eine 100-prozentige Bestätigung unserer Auffassung, dass das Parlament mehr Informationsrechte bekommen muss", sagte der europapolitische Sprecher der Grünen, Manuel Sarrazin, dem Abendblatt nach dem Richterspruch. Der Hamburger Abgeordnete hatte die Klage initiiert, die die grüne Bundestagsfraktion im Juli 2011 eingebracht hat. "Mit dem Urteil ist für alle weiteren Fälle vorgebaut - und zwar unmissverständlich."

Das sieht auch der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag so: "Das Urteil hat wichtige Klarheit geliefert, die über den Tag hinausreicht", sagte Gunther Krichbaum (CDU) dem Abendblatt. "Wir befinden uns auf dem Weg in eine Fiskalunion, bei der auch Rechte der Parlamente an europäische Institutionen übertragen werden. Deshalb ist es umso wichtiger, dass der Bundestag nun über alle wichtigen Verhandlungsschritte informiert wird." Man müsse allerdings anerkennen, dass die Bundesregierung schon seit Einbringung der Klage viel umfassender ihren Kenntnisstand teile als zuvor.

Mit ihrem Urteil haben die Richter jedoch eine juristische Lücke geschlossen: Bisher war nur geregelt, dass der Bundestag bei EU-Angelegenheiten bestimmte Informations- und Beteiligungsrechte hat - also bei Entscheidungen, die in Gremien der 27 EU-Mitgliedstaaten getroffen werden. Bei Verhandlungen etwa im Rahmen der 17 Euro-Staaten hatte sich die Bundesregierung jedoch auf das Völkerrecht berufen, bei dem sie eben nicht den Bundestag über jeden Verhandlungsschritt informieren muss. Zu Unrecht, wie das Gericht befand. Es soll deshalb künftig nicht darauf ankommen, ob es sich um Maßnahmen der EU handelt oder um Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten. Es reicht, dass die Maßnahmen in einem "besonderen Näheverhältnis" zur EU stehen. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle widersprach dabei dem Einwand, parlamentarische Beteiligungsrechte wirkten bei eilbedürftigen Maßnahmen kontraproduktiv. Demokratie habe ihren Preis. "Bei ihr zu sparen könnte aber sehr teuer werden."

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Karlsruhe gibt damit die Richtung vor: Schon 2009 hatte das Gericht im Lissabon-Urteil festgestellt, dass das Recht des Bundestags auf Mitsprache insbesondere in Haushaltsfragen nicht durch Beschlüsse durch die EU-Staaten ausgehebelt werden darf. Die aktuelle Rechtsprechung reiht sich darin ein. "Das Urteil hat eine Linie vorgegeben, hinter die es kein Zurück mehr gibt", meint auch Krichbaum. "Bei allen weiteren Schritten der europäischen Integration muss der Bundestag mit einbezogen werden. Das ist eines der wichtigsten Signale, die Karlsruhe heute gesendet hat." Die Entscheidung der Richter komme damit auch einem diffusen Gefühl der Ohnmacht entgegen, das die Bürger oft bei europäischen Prozessen hätten. "Sie zeigt ihnen, dass dem Parlament und damit den gewählten Volksvertretern weiterhin zentrale Bedeutung zukommt."

Merkel sagte am Rande des G20-Gipfels, das Urteil werde Leitlinie der Bundesregierung sein. "Wir haben dafür jetzt klare Maßstäbe." Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellte zudem klar, dass die Entscheidung keine Auswirkung auf bereits gefasste Euro-Beschlüsse habe. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sprach von einer "schweren Blamage" für die Bundesregierung.