Parlamentarier sind in Berlin grundsätzlich immer in Hektik und müssen daheim ihren Wahlkreis bei Laune halten. Unterwegs mit Johannes Kahrs.

Berlin. Noch immer spuckt der U-Bahn-Schacht am Steintorplatz grölende Jugendliche in die kalte Hamburger Morgenluft. Es ist Sonnabendfrüh, noch keine 7 Uhr, das Nachtblau weicht einer grauen Wolkendecke, die trotz des starken Windes zäh über der Stadtmitte hängt. Die Partyheimkehrer dünsten Restalkohol aus.

Gleich nebenan steigt der direkt gewählte Abgeordnete für den Wahlkreis 019 Hamburg-Mitte die Stufen im Reisebus hoch und knipst sein Lächeln an. "Guten Morgen, ich bin Johannes Kahrs, Bundestagsabgeordneter und heute für Ihre Bespaßung zuständig", ruft er 53 fremden Menschen entgegen. Zustimmendes Gemurmel, hier und da ein Lachen. Alles klar, funktioniert. Die Show kann losgehen.

Zum 700. Mal rollt Kahrs heute mit einer Ladung potenzieller Wähler nach Berlin. "Politische Tagesfahrt" heißt das, die allermeisten Parlamentarier veranstalten solche Trips in die Hauptstadt, um den Menschen zu zeigen, wie das mit der Politik so funktioniert. Man besichtigt dann den Reichstag und den Plenarsaal. Bekommt den Abgeordneten-Alltag und ein bisschen die deutsche Geschichte erklärt. Kahrs macht das an die 70-mal im Jahr. Wer mitwill, muss 25 Euro bezahlen.

Damit sich das für die Leute lohnt, setzt Kahrs auf den Spaßfaktor: "Die Deutsche Staatsoper wird gerade für 200 Millionen Euro grundsaniert, da Sie als Steuerzahler bezahlt haben, genießen Sie es", ruft er, als der Reisebus drei Stunden später in Berlin an dem planenverdeckten Gebäude vorbeischaukelt. Reden, das kann Kahrs gut. Und natürlich ist da auch die Routine, der immer gleiche Ablauf, die immer gleichen Kalauer. "Wir haben hier um die 300 Büros, 16 Quadratmeter für jeden. Das ist moderne Käfighaltung", feixt Kahrs etwas später im Paul-Löbe-Haus, wo er im siebten Stock sein Büro hat. Großes Gelächter. "Und passen Sie hier bitte auf mit den Stufen. Nicht hinfallen. Blut kriegen wir so schlecht raus aus dem Marmorboden."

+++ Alle wollen nach Berlin - das Gerangel um die Wahlkreise +++

Politik ist ein sonderbares Geschäft. Wer die Nachrichten verfolgt, lernt, dass Politik oft Streit ist, dass eine Handvoll medienpräsenter Alphatiere die Bilder dominiert. Er lernt manchmal auch, dass Politiker sich unmoralisch verhalten. Das öffentliche Bild lässt dabei aber den größten Teil im Dunkeln. 620 Abgeordnete wurden bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 gewählt, 204 Frauen und 416 Männer. Sie sind die Räder im Getriebe der Demokratie - und die Mehrzahl von ihnen muss ohne Scheinwerferlicht auskommen. Sie müssen verhandeln und netzwerken. Sie müssen damit leben, von vielen Wählern verachtet zu werden. Die Kluft zwischen Politik und Bürgern ist groß. "Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat", hat Loriot einmal gesagt. "Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen."

Es ist Montagnachmittag, fünf Tage vor der 700. Busfahrt und die siebte von 20 Sitzungswochen in diesem Jahr. Nach Besprechungen mit der Arbeitsgemeinschaft Netzpolitik und dem Unterausschuss Neue Medien geht Kahrs schnurstracks zum Sitzungssaal 2400 im Paul-Löbe-Haus. Er soll mit Mitgliedern des Haushaltsausschusses ausländische Journalisten treffen. "Verschuldetes Europa - welche Reformen sind nötig?" lautet das Diskussionsthema. Für jeden, den er auf seinem Weg trifft, hat Kahrs einen Spruch parat - oder kennt ihn beim Vornamen. "Berti", ruft Kahrs etwa dem beleibten CSU-Abgeordneten Herbert Frankenhauser zu. "Der Mann der aussieht, wie Blasmusik klingt." Kahrs hat diesen Satz aus einem Artikel. Er gluckst.

Seit 1998 sitzt Kahrs im Bundestag. Da kennt man sich. Zudem ist Kahrs in exakt 50 Organisationen Mitglied; tritt er neu irgendwo ein, tritt er woanders aus. Kahrs ist Vorsitzender beim Technischen Hilfswerk Hamburg, Mitglied des FC St. Pauli und der Pfadfinder. In Berlin sitzt Kahrs im mächtigen Haushaltsausschuss, in dem sich nicht nur die SPD-Politiker duzen, sondern gleich alle Mitglieder. Er ist Stellvertreter im Verteidigungs- und Verkehrsausschuss, Sprecher des Seeheimer Kreises, des rechten Flügels in der SPD-Fraktion oder Beauftragter für Schwule und Lesben. Und Schatzmeister der Parlamentarischen Gesellschaft, was so viel ist wie ein Abgeordnetenklub, in dem sich Politiker zu Vier-Augen-Gesprächen treffen und Lobbyisten zu Häppchen-Terminen geladen werden. "Je mehr Leute man kennt, desto mehr kann man mit ihnen zusammenarbeiten", sagt Kahrs.

+++ Johannes Kahrs sieht die Elbvertiefung in Gefahr +++

Im Saal 2400 geht es um große Fragen. Wie kommen wir aus der Krise? Wie werden wir die Schulden los? "Sparen allein reicht nicht", sagt Kahrs. "Es kommt auch darauf an, für jedes Land Strategien zu finden, um aus der Krise zu kommen." Später muss er zum Frühjahrsempfang der SPD-Fraktion im Reichstag. Abendlicht scheint durch die Glaskuppel, die Begrüßungsrede von Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier zieht sich in die Länge.

Während Kahrs Dienstagmorgen bereits in der AG der SPD-Haushälter sitzt, trinkt sein Referent Matthias Schmidt oben im Büro seinen zweiten Espresso. Der 36-Jährige ist ehemaliger Offizier, seit vier Jahren fest bei Kahrs. Er muss Debatten und Reden vorbereiten, Termine abstimmen und in Sitzungen gehen, wenn Kahrs beschäftigt ist. Für alle Referenten ist es genauso entscheidend wie für die Politiker, wie die Wahlen verlaufen: Schafft es einer nicht mehr ins Parlament, gehen auch die Mitarbeiter leer aus.

Kahrs rauscht ins Büro. "Schalömle!", ruft er und legt Schmidt einen Zeitungsartikel auf den Tisch, über den er sich geärgert hat. Ein CDU-Kollege wusste vor ihm, dass die Ortsumgehung Geesthacht gebaut wird. Dabei ist Kahrs als zuständiger Berichterstatter für alles verantwortlich, was mit dem Etat des Verkehrsministeriums zu tun hat. Schmidt muss das recherchieren.

+++ Jugendhilfeausschuss: Neuanfang ohne Johannes Kahrs +++

13 Uhr, Kahrs sitzt im Gespräch mit dem Bundesrechnungshof zur Reform der Bundeswasserstraßen. Sollen Bauarbeiten an Flüssen und Kanälen privatisiert werden? Streit mit der FDP, Streit mit den Grünen, Ärger mit dem Verkehrsministerium. Kahrs hat sein Sakko ausgezogen, die Ellenbogen aufgestützt und redet sich in Rage - gegen die Privatisierung. 13.30 Uhr Mittagstisch der Seeheimer. 15 Uhr Fraktionssitzung, um 19 Uhr ein Termin in Hamburg, Diskussion beim Marinebund, danach Jahreshauptversammlung der SPD Hamm-Borgfelde. Am nächsten Morgen um 7.06 Uhr steigt er in den ICE 703 zurück nach Berlin.

"Politik ist wie eine legale Droge", sagt Kahrs. "Es macht einfach Spaß." Genauso reden auch andere Abgeordnete. Dorothee Bär zum Beispiel, 34 Jahre alt, seit 2002 für die CSU im Bundestag und Mutter zweier Töchter, zwei und fünf Jahre alt. "Solange mir mein Job Spaß macht, empfinde ich ihn überhaupt nicht als anstrengend", sagt sie. "Wobei man hier als Frau schon eine echte Kämpfernatur sein muss." Bär ist seit 2009 familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion. Als sie damals aufsteigen wollte, haben einige Kollegen versucht, ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen. "Die haben behauptet, sie würden dabei nur an mein Kind denken. Als ob ich selbst das nicht tun würde." Die Partei ist eben konservativ. Bärs Wahlkreis, 248 Bad Kissingen, ist der ländlichste in Bayern.

Außerhalb der Sitzungswochen tingelt sie dort zu Kitas, Altenheimen und Verbandsveranstaltungen. Bei Kahrs ist das ähnlich. Fast 375 000 Menschen wohnen zwischen Finkenwerder und Rothenburgsort - der Wahlkreis Mitte ist der bevölkerungsreichste in Deutschland. Kahrs besucht Skatrunden und Grillabende, hält Grußworte beim Schützenverein, steht sich auf Straßenfesten die Beine in den Bauch und macht um die 200 Hausbesuche pro Jahr. Er sitzt dann bei alten Damen oder Studenten bei Tee und Kuchen auf dem Sofa und erklärt Politik. "Die Leute wollen einfach mit einem reden, um bestimmte Dinge zu verstehen." Und manchmal wollen sie sich auch beschweren, gern über die Politiker im Allgemeinen. Kahrs muss dann versuchen, eine gute Antwort zu finden. Die Wähler honorieren das. 34,6 Prozent haben 2009 für ihn gestimmt. Davor kam Kahrs allerdings auf deutlich mehr als 50 Prozent.

+++ Nachfolger für Kahrs im Jugendhilfeausschuss +++

Für ihn ist die Wahlkreisarbeit so etwas wie seine politische Lebensversicherung. Er ist Direktkandidat und hat keinen komfortablen Listenplatz, über den die Politiker über die Zweitstimmen für ihre Partei gewählt werden. Da er nur das erste juristische Staatsexamen hat, könnte Kahrs nicht als Anwalt arbeiten, wenn er einmal ausscheidet. Sein jetziges Gehalt beträgt 7960 Euro, netto sind das 4985 Euro, dazu kommt noch eine Kostenpauschale von 4029 Euro, etwa für Bürokosten, Fahrten, die Verpflegung in Berlin.

Am Mittwochmittag löffelt Kahrs im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft eine Kraftbrühe mit Eierstich. Er ist zufrieden mit sich. Um Druck auf die niedersächsische Landesregierung zu machen, damit sie endlich der Elbvertiefung zustimmt, hat er laut gemutmaßt, dass Hannover das Thema angesichts bevorstehender Landtagswahlen verschleppen will. Kahrs hat damit den Weg in die Zeitung und ins Radio gefunden. Auch das ist Politik: sich Gehör bei den Medien verschaffen, Botschaften platzieren.

Hier kommt auch das Thema Konkurrenz ins Spiel. Bei 620 Abgeordneten gibt es eine ganze Menge Botschaften, die jeden Tag über den Äther geschickt werden. Wer gehört werden will, braucht deshalb die Medien - oder ein hohes Amt. "Konkurrenz", sagt Kahrs, "gibt es überall. Man muss aber versuchen, die Konfrontation innerhalb der eigenen Partei zu vermeiden. Da geht einfach zu viel Energie verloren."

+++ Auch Johannes Kahrs verzichtet +++

Nicht immer geht das. Kritiker - nicht nur von der Opposition, sondern auch aus der SPD-Linken - werfen ihm vor, Schaltstellen im Wahlkreis mit Gefolgsleuten zu besetzen, um die eigene Macht zu sichern. Manche sprechen von einem System. "Solche Leute sehen nicht, was hinter den Dingen steckt", sagt Kahrs. "Wenn am Ende etwas entschieden wird, dann hat das nichts mit Durchregieren zu tun. Sondern damit, dass es viel, viel Arbeit kostet, mit allen Leuten immer wieder zu reden und einen Kompromiss zu finden."

Kahrs muss jetzt aus dem Garten der Parlamentarischen Gesellschaft wieder rein in den Reichstag. Noch drei Termine stehen an. Auch der Donnerstag ist komplett verplant. Kahrs gähnt, als er am Freitagmittag im ICE nach Hamburg sitzt und sich einen Pfefferminztee bestellt. Er wird gleich schnell seine Reisetasche in seine Wohnung bringen, dann geht es in die Handwerkskammer, die er bei der Nachwuchsgewinnung fürs THW um Hilfe bitten will. Abends sind Koalitionsverhandlungen für den Bezirk Mitte. Sonnabend muss er früh aufstehen für die 700. Tagesfahrt.

Nach der Besichtigung des Reichstags dürfen die 53 Busgäste Kahrs im Fraktionssaal der SPD Fragen stellen. Wie er denn Politik und Privatleben vereinbart, will eine Frau wissen. Wie schwer die Euro-Krise noch wird, fragt eine andere. Kahrs redet viel, wie immer. Und alle bekommen seine Handynummer, damit sie anrufen können, wenn mal was ist. "Hilft auch gegen Politikverdrossenheit", sagt Kahrs. Doch die ist nun mal riesig. Wie die Demoskopen in Allensbach ermittelt haben, glauben nur 20 Prozent der Deutschen, dass Bundestagsabgeordnete die Interessen der Bevölkerung vertreten.