In Geesthacht ist der Atommeiler Krümmel abgeschaltet. Und doch stehen alle irgendwie am Anfang - Anwohner, Betreiber und die Stadt.

Hamburg. Die Strahlung huscht in dünnen grauen Kondensstreifen über die schwarze Fläche in dem Kasten. Es ist dunkel, um den Tisch herum stehen eine Handvoll Schüler und ein Mann mit grauen Haaren und einer großen Brille, der gerade von Alpha-Teilchen, Protonen und Beta-Strahlung spricht. Dann schiebt er eine kleine Scheibe aus Plexiglas über die schwarze Fläche, die simulierte Strahlung in der Nebelkammer wird unterbrochen. Katrin Mentzel-Pajuelo steht neben den Schülern, schaut zu und schweigt. Seit 2008 kämpft sie gemeinsam mit anderen Eltern in einer Initiative gegen das Kraftwerk in Krümmel, das mittlerweile abgeschaltet ist und auch nicht mehr anlaufen soll. Kernspaltung findet nur hier, neben dem Reaktor, im Informationszentrum von Kraftwerksbetreiber Vattenfall statt. Zumindest auf Bildern.

Katrin Mentzel-Pajuelo zieht den Vorhang zur Seite, als der Mann seine Vorführung beendet hat. So einfach sei das also, sagt sie. "Man schiebt bloß eine Scheibe dazwischen, und gut is." Wie verharmlosend das sei.

Das Kraftwerk Krümmel war seit 1984 am Netz. Dazwischen lag das, was auch andere Atomstandorte erlebt haben: Protest, als es losging, Protest als das Kraftwerk lief, Protest als es schon vom Netz war. Krümmel lieferte lange Zeit zehn Milliarden Kilowattstunden Strom jährlich, 30 Prozent des in Schleswig-Holstein erzeugten Stroms. Und es gab Störungen, an Transformatoren, sogar Brände auf dem Gelände. Gerade erst war eine Schraube an einem Rohrverbinder gebrochen, der Notstromdiesel fiel aus. Ein meldepflichtiges Ereignis, sagt Vattenfall. Eine Panne, sagt Katrin Mentzel-Pajuelo.

+++ AKW Krümmel +++

Dann, im März 2011, kam die Katastrophe von Fukushima. Die große Welle, Bilder eines dampfenden Reaktors. Die schwarz-gelbe Regierung nahm die Laufzeitverlängerung zurück und beschloss den Ausstieg aus der Kernenergie. Am 30. Mai 2011 gab die Bundesregierung bekannt, dass Krümmel nicht wieder anfährt. Vom Netz war das Kraftwerk schon seit 2009.

Die Ära Kernkraft ist beendet, in Krümmel und anderswo. So sehen das die Politiker in der Stadt, so wollen das Menschen wie Mentzel-Pajuelo, so sagt das Vattenfall. Und sie alle stehen mit dem Ausstieg auch irgendwie an einem Anfang. Stadt, Anwohner, Betreiber.

Auf dem Glastisch im Büro von Pieter Wasmuth liegen ein paar faustgroße Brocken, Steinkohle aus den USA. Wasmuth läuft rüber zu seinem Regal hinter dem Schreibtisch und bringt ein Stück Braunkohle mit, unterarmgroß, drei Millionen Jahre alt, aus einem Tagebau in der Lausitz. "Cool, was?", sagt er. Wasmuth ist Generalbevollmächtigter der Vattenfall Europe AG für Hamburg und Norddeutschland. Und er sagt: "Kernenergie ist in Deutschland ein emotionales Thema. Kein anderes Land hat eine ganze Partei aus der Anti-Atom-Bewegung hervorgebracht." Wasmuth spricht vom Wettkampf um Ressourcen, Rahmenbedingungen für eine Endlagerung des Atommülls, von einer gesellschaftlichen Aufgabe, vor der man mit der Energiewende jetzt stehe.

Und vor hohen Kosten. Für Stilllegung, Rückbau und Entsorgung des Abfalls kalkuliert der Betreiber im Fall von Krümmel knapp zwei Milliarden Euro. 15 bis 20 Jahre dauert der Rückbau eines Siedewasserreaktors wie Krümmel.

Wasmuth ist Kaufmann, es geht auch ums Geschäft. Und mit Atomstrom lasse sich in Deutschland kein gutes Geschäft mehr machen. "Wir wissen seit dem Ausstieg von 2001, dass die Nutzung der Kernenergie in Deutschland ein Auslaufmodell ist", sagt er. Allerdings hätte man nach dem Beschluss der damals rot-grünen Regierung schon damit gerechnet, die zugesagten Restmengen auch nutzen zu können.

Für das Kraftwerk Krümmel gibt es keine Restmengen mehr. Und für Geesthacht kein Geld mehr. In den vergangenen 20 Jahren hat Krümmel der Gemeinde nach Angaben von Vattenfall 141,5 Millionen Euro eingebracht. Geesthacht hat viele Millionen davon in Schulen investiert, für 600 000 Euro einen Kunstrasenplatz verlegt, für knapp drei Millionen Euro eine neue Sporthalle gebaut. Auch mit Geld von Vattenfall. Das jetzt nicht mehr fließt.

+++ Energieberg: Neue Windräder für Harburg +++

Ein Sprecher der Stadt Geesthacht sagt, man müsse jetzt öfter den Rotstift ansetzen. Den Ausstieg begreife man aber als Chance. Und Geesthacht hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: Die Stadt will sich bis 2030 ausschließlich mit Strom aus regenerativen Quellen versorgen. Dafür rief die Ratsversammlung einen Energieausschuss ins Leben. Er soll Geesthacht zur Ökostadt machen: Wo könnten Windkraftanlagen gebaut werden? Auf welche Dächer dürfen Solaranlagen installiert werden? In Geesthacht gibt es im Moment vor allem viele Fragen. Antworten will man auch auf einer Messe im August finden, veranstaltet vom Forum Kultur & Umwelt, ein Verein, in dem Gemeinden, Kulturschaffende und Verbände vertreten sind. Die Stadt unterstützt die Messe mit 5000 Euro.

Auch die Firma ECC Repenning GmbH wird dort ausstellen, die Hochleistungsakkus produziert. Für die Energiewende werden sie gebraucht, damit die gewonnene Energie effizient gespeichert werden kann. Mehrere zweistellige Millionenbeträge habe die Firma gemeinsam mit einem Partner aus Bayern hier investiert, gerade entsteht ein Gebäude für 400 Mitarbeiter in Geesthacht. Die Nähe zu Hamburg, aber auch die Nähe zu den Forschern des Helmholtz-Zentrums in der Stadt, das seien Standortfaktoren, sagt Firmenchef Detlev Repenning. Im Rathaus der Stadt hören sie solche Sätze gerne. Und sie brauchen mehr davon. "Energiewende: Made in Geesthacht", davon schwärmen sie, seitdem Deutschland raus will aus der Atomkraft und Krümmel vor allem Geld kostet.

Doch noch liegt das Kraftwerk da, wie ein grauer Berg. Drinnen, im Kraftwerk, sind noch immer 330 Mitarbeiter beschäftigt, etwa ein Drittel aller Angestellten, die Vattenfall in Deutschland überhaupt im Bereich Kernkraft beschäftigt. Der Mitarbeiter im Informationszentrum verabschiedet gerade die Schulklasse. "Energie ist Leben" steht in roter Schrift im Eingangsbereich. Die Anwohnerin und Aktivistin Mentzel-Pajuelo sagt: "Geesthacht geht es gut, aber auf wessen Kosten." Sie lese von den Zwischenfällen in dem Kraftwerk, im Fernsehen habe sie mit Interesse die Dokumentation "Die Atomlüge" angeschaut. Sie erzählt von Kindern in Geesthacht, die eben noch im Garten gespielt haben und dann zum Pflegefall wurden. Leukämie. Wenn Mentzel-Pajuelo das Wort in den Mund nimmt, wird ihre Stimme laut. 2007 stellte eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz eine erhöhte Zahl von Krebsfällen in der Region fest. Ein Beweis für einen Zusammenhang mit dem Atomkraftwerk fand man nicht. "Aber auch keinen Gegenbeweis", sagt Mentzel-Pajuelo. Und die Krebsfälle sind da.

Jeder hat seine Sicht, kämpft an seiner Front, Energiekonzerne, Atomkraftgegner. So war es immer schon. Daran hat der Ausstieg nichts geändert.

Mentzel-Pajuelo steht vor dem kleinen Kraftwerksmodell im Info-Zentrum. Sie drückt ein paar Knöpfe, Lichter blinken an den Brennstäben. Ihr fehle das Vertrauen in die Energiekonzerne, aber auch in die Politik, sagt sie.

Im Sommer wollen sie noch einmal diskutieren: Atomkraftgegner, Vattenfall, Anwohner, der Bürgermeister, die Aufsichtsbehörden. Es geht wieder um die Fragen, die in Geesthacht auch ein Jahr nach dem Atomausstieg bleiben: Wie lange dauert der Rückbau, und wie sicher ist das alles? Mentzel-Pajuelo wolle Aufklärung. "Atomkraft ist doof, der Satz ist mir zu einfach", sagt sie.