100 Bürger durften in Erfurt mit einer ungezwungenen Merkel diskutieren. Weitere Versammlungen in Heidelberg und Bielefeld geplant.

Erfurt. So nah waren sie ihr noch nie: Rund 100 Bürger durften am Mittwochabend in Erfurt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel , die ungezwungen auftrat, über die Zukunft diskutieren. "Dann bin ich gleich eine von Ihnen“, sagt sie, als sie sich beim Fototermin zu Beginn für wenige Augenblicke zwischen die Teilnehmer setzt. Und auch anschließend nimmt die Kanzlerin sich zurück und gibt sich als Protokollantin der Bürgerwünsche. "Ich bin heute hier, um auf Sie zu hören.“

Das Kanzleramt hat ein ambitioniertes Ziel ausgegeben: Jenseits der politischen Alltagshektik herauszufinden, wie die Deutschen sich ihr Land in fünf bis zehn Jahren vorstellen. Und an Vorschlägen mangelt es bei der ersten von drei Bürgerversammlungen nach dem Vorbild amerikanischer "town hall meetings“ nicht. Bahnbrechend Neues ist nicht darunter. Es geht um Kinderbetreuung, Ehrenamt, das Zusammenleben der Generationen, Toleranz, Integration von Migranten, gleichen Lohn und gleiche Rente in Ost und West, Förderung von Migrantenkindern, Strategien gegen Rechts.

+++ Höchstes Vertrauen in Merkel seit Koalitionsbeginn +++

+++ Kanzlerin Merkel außer Rand und Band im Kanzleramt +++

Auch kontroverse Ideen sind darunter: Ein Mann fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine Schülerin ein bundesweit einheitliches Bildungssystem. Ein Mann, der sich selbst als "kleines Ortsbürgermeisterlein“ vorstellt, bricht eine Lanze für den ländlichen Raum und wettert gegen zu viel Bürokratie. Einige mahnen, den Staat nicht für alles in die Pflicht zu nehmen: Er sei nicht allmächtig, vielmehr brauche jeder Einzelne Spielraum, um sich selbst einbringen zu können. Die Kanzlerin stimmt zu: Auch das scheint ihr zu gefallen.

Letztlich bleibt das Gespräch an der Oberfläche – schon aus Zeitgründen. Auf 90 Minuten ist das Treffen beschränkt, Moderator Tilman Schöberl mahnt immer wieder zur Kürze. Die Leitfrage "Wie wollen wir zusammenleben?“ Die Beiträge laufen querbeet, so wie auch die Zusammensetzung der Teilnehmer ein Spiegelbild der Gesellschaft sein soll: jung und alt, Rollstuhlfahrer und Kopftuchträgerin, Unternehmerin und Bauarbeiter. 50 von ihnen wurden per Los von Zeitungen ausgewählt, 50 über Verbände und Organisationen vom Bundeskanzleramt.

Die Kanzlerin zeigt sich den Ideen gegenüber aufgeschlossen, nickt, demonstriert Verständnis und verspricht immer wieder: "Wir nehmen das auf.“ Schon seit Anfang Februar können Bürger Vorschläge auf der Internetseite des "Zukunftsdialogs“ platzieren und Ideen anderer bewerten. Tausende Anregungen gingen bereits ein. Außerdem diskutieren 18 Expertengruppen über drängende Zukunftsfragen.

Im März sind weitere Bürgerversammlungen in Heidelberg und Bielefeld geplant. Dort stehen dann die Fragen "Wovon sollen wir leben?“ und "Wie wollen wir lernen?“ im Mittelpunkt.