Er trug einen taubenblauen Anzug, als ich meine letzten Hippie-Klamotten aus dem Schrank aussortierte. Er setzte ein Kassengestell auf und ich meine erste Ray-Ban. Der Schriftsteller Walter Kempowski hatte Helmut Kohl aus der Nase gezogen, dass er "immer gut in Hölderlin war" und ein "Trompeten-Fan". Damals tanzte ich zur Gute-Laune-Musik von Madonnas "Holiday" oder Michael Jacksons "Thriller". Meine Freundinnen, die gerade erst aus der Wohngemeinschaft ausgezogen waren, besuchte ich in ihren neuen Single-Lofts. Sie arbeiteten beim Theater, bei der Zeitung oder im Krankenhaus.

Zur selben Zeit präsentierte Helmut Kohl seinen Bungalow in Oggersheim, mit dem Heimchen am Herd, Ehefrau Hannelore, die, wie sich später herausstellte Dolmetscherin war und mehr Sprachen sprach als er. Er hielt dagegen Sätze parat wie: "Wenn man deutsche Kulturgeschichte studieren will, geht man am besten auf den Heidelberger Bergfriedhof", und forderte eine "geistig-moralische Wende".

"Na, dann gute Nacht", dachte ich. Wende, wohin? Zurück zum Biedermeier? Hatten wir uns nicht gerade erst von patriarchalen Zwängen befreit, von Muff und Enge? Mit diesem Bundeskanzler, der auf den scharfsinnigen Helmut Schmidt und den Weltmann Willy Brandt folgte, verband mich rein gar nichts. Vaterlandsliebe und Pathos waren damals nur peinlich. Pfeife rauchend Weinschoppen trinken ebenfalls. Und Volkslieder, Sandalen und Strickjacke hoffnungslos überholt.

Der joviale Pfälzer Kleinbürger mit dem massigen Körper und der wolkig-pathetischen Sprache aus Fertigbauteilen war zwar bei seinem Amtsantritt mit 52 Jahren der jüngste Kanzler, den die Republik je gehabt hatte, er wirkte aber trotzdem wie eine ältliche Gouvernante. Bräsig, männerbündelnd, spießig, aufgebläht pompös stand er für ein provinzielles Politbarock, das geradewegs eine Rückwärtsrolle in die 50er-Jahre machte. Mit seinem Dialekt, der "Greise" und "Kreise" nicht auseinanderhält, ebenso wenig "ch" und "sch", sprach er von "Menchen" und "Gechichte". Lachhaft.

Ich bin in Berlin aufgewachsen und als Schülerin den 68er-Studenten auf Demos hinterhergerannt. Wir glaubten an Gleichberechtigung und freie Liebe, daran, dass Aufarbeitung und kritisches Bewusstsein zu einer neuen Gesellschaft führen würden. Das war naiv. Aber ein Kanzler, der fiebernd vom "deutschen Wesen" sprach, der verkündete: "Die Bundesrepublik konnte entstehen, weil der Einzelne sein eigenes Ich und seine Sehnsüchte in das Wir des Ganzen eingebracht hat"? Der war so weit weg von allem, was uns damals bewegte, dass man sich nicht von ihm vertreten fühlen konnte.

In der Tat war Helmut Kohl ja bis zur Wiedervereinigung 1989 der unbeliebteste Kanzler der Deutschen. Um der begrenzten Beschlagenheit auf verschiedenen Sachgebieten entgegenzuwirken, nannte sich der promovierte Historiker Generalist. Der Volksmund machte sich lustig, sprach vom "Hohltöner", vom "Schwarzen Riesen" und von "Birne". Das saß und traf.

Helmut Kohl gab sich bodenständig, und die Nation durfte Anteil nehmen, wenn er im Frühjahr zum Abspecken nach Hofgastein fuhr oder zum Sommerurlaub an den Wolfgangsee. Damals, als wir Europa erkundeten und selbstverständlich schlank waren. Gern sprach er von "den breiten Schichten unserer Gesellschaft", von "diesem, unserem Land" statt von Deutschland und der "Famillje", die als Modell für den Staat herhalten sollte. Stichwörter wie Pflichtgefühl, Disziplin, Fleiß, Maßhalten oder Bürgermentalität gehörten zu seinem Tugendkatalog. Damals klang das unglaublich hausbacken, gestrig, verstaubt. Heute, 20 Jahre später, denke ich, dass diese Tugenden wichtiger sind denn je, denn die Gesellschaft driftet ohne sie noch weiter auseinander. Bin ich jetzt alt geworden, milde? Oder auch spießig?

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