Es begann nicht mit einer Birne, sondern mit sauren Gurken. Sie standen immer neben Käse und Mettwurst, in einer Schale aus rot geblümtem Porzellan, passend zur Teekanne. Auf deren Schnabel hatte meine Oma eine Spitze aus Plastik gesetzt, damit der Fencheltee beim Eingießen nicht auf die weiße Tischdecke tropfte. Und als einmal der Deckel der Kanne beim Spülen zersprang, besuchte sie so lange Fachgeschäfte, bis sie perfekten Ersatz gefunden hatte. Wegwerfen, so etwas gab es im Haus meiner Großeltern nicht. Ihre Haltung, ihr Heim sind für mich die stilbildenden Zutaten der Ära Kohl.

Und der kam dort immer pünktlich nach dem Abendessen. Damals, Mitte der 80er-Jahre, schalteten meine Großeltern den "Apparat" ein, um Nachrichten zu sehen. Wenn ich dazwischenredete, legte mein Opa die Stirn in Falten, hielt den Zeigefinger vor seinen Mund und sagte "Psst". Und einer, der wie ich damals gerade in die erste Klasse kam, kannte in diesen Sendungen nur einen Hauptdarsteller: unseren Bundeskanzler.

Erst heute ist mir klar, welche Folgen dieses Zusammentreffen hatte. Damit meine ich weniger die Begegnungen zwischen Kohl und mir, sondern die Macht des Nationenvaters über Mettwurst, saure Gurken und deutsche Hausmannskost überhaupt. Dass heute Modepunks in Berlin von geschmorter Ochsenbacke schwärmen, ein Restaurant im Hamburger Schanzenviertel pfälzischen Saumagen anbietet, das ist für meine Generation erst nach Abtritt des ewigen Kanzlers möglich geworden. Je mehr ich mich für Politik interessierte, desto weniger konnte ich während seiner Amtszeit Gefallen an der Provinzküche finden. Sie machte dick und war unerträglich deutsch. Die Großstädte flüchteten sich in Sushi und Thai-Curry - auch um dem Gefühl zu entkommen, Dr. Kohl sitze mit am Tisch.

Meine Großeltern begegneten ihrem Stammgast mit Respekt. In ihrem Wohnzimmer verlief seine Amtszeit ruhig, wie auch jene Uhr, die auf einem Schränkchen neben dem Ohrensessel stand. Unter ihrem Zifferblatt drehten sich statt Pendel drei goldene Kugeln, darüber stülpte sich eine Glocke aus Glas, was praktisch war: Das kostbare Uhrwerk blieb gut sichtbar, und trotzdem konnte man beherzt mit einem Staublappen darüberwischen.

Für den Bundeskanzler gab es keine Schutzglocke mehr, als ich aufs Gymnasium kam. Ein Mitschüler trug ein T-Shirt, auf das unter einer US-Flagge geschrieben war: "We have John Hope, Stevie Wonder, Jonny Cash". Darunter stand: "We have Helmut Kohl. No Hope. No Wonder. No Cash". So waren die Witze eben. Und wie wenig Talent es verlangte, ihn zu imitieren, würde die Zahl der Tausenden Kabarettisten zeigen, die gemeinsam mit Kohl in den unfreiwilligen Ruhestand gingen - wenn man sie denn wüsste. Und dennoch: Kohl berührte meine Generation am peinlichsten Punkt: Wir wollten Glamour, Kunst, Weltoffenheit. Weil wir uns selbst dabei ertappten, noch zu nah dran an jenen Deutschen zu sein, die ferne Länder nur aus Schlagertexten kannten. Wir, von denen einige im Italienurlaub damals selbst noch "Expresso", nicht Espresso bestellten.

Man mag es unfair finden, dass mit Helmut Kohl ausgerechnet ein Mann dieses Image nicht loswurde, der mit den harten Hunden der Weltgeschichte erfolgreich über die deutsche Einheit verhandelte. Deutlicher erinnere ich mich jedoch an einen Fernsehauftritt kurz vor seiner Abwahl 1998: Ein Zivildienstleistender fragte Kohl, wie er denn junge Wähler erreichen wolle, wenn die CDU doch so altmodisch und konservativ sei. Der Kanzler antwortete: "Sie haben da eine Meinung, und die ist eben falsch."

Sauere Gurken und Mettwurst esse ich wieder gerne. Nach der Abwahl Kohls häuften sich Szene-Kneipen, die ihre Wände mit Hirschgeweihen dekorierten. Man könnte heute auch ein Foto des Altkanzlers danebenhängen. Meinen Appetit würde das jedenfalls nicht mehr verderben.