Vor dem Gespräch ging die Kanzlerin in die Offensive. In einem Interview kritisierte sie Äußerungen des FDP-Chefs zum Sozialstaat. Umfragewerte für den Außenminister im Keller.

Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihr Schweigen zu der vom FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle angefachten Diskussion über die Grenzen des Sozialstaats gebrochen. Unmittelbar vor einem Sechs-Augen-Gespräch mit ihm und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer im Kanzleramt kritisierte die CDU-Vorsitzende, Westerwelle habe seine Kritik an Hartz IV so formuliert, als bräche er ein Tabu. Nach dem dreistündigen Spitzentreffen bewertete der FDP-Chef das Gespräch "sehr konstruktiv, sachlich und ruhig".

Merkel hatte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zuvor gesagt, Westerwelle habe bei seinen Hartz-IV-Äußerungen inhaltlich nur Selbstverständliches ausgesprochen. "Für alle Mitglieder der Bundesregierung ist es selbstverständlich, dass jemand, der arbeitet, mehr bekommen muss als jemand, der nicht arbeitet. Selbstverständliches sollte selbstverständlich bleiben, damit man in der Sache zu guten Ergebnissen kommen kann", sagte Merkel der Zeitung.

Die von Westerwelle geforderte Verschärfung von Sanktionen bei einem Missbrauch von Hartz-IV-Leistungen lehnte die Kanzlerin dem Bericht zufolge ab. Die deutsche Rechtslage zu den Sanktionsmöglichkeiten bei Pflichtverletzungen von Langzeitarbeitslosen zähle "schon heute zu den strengsten in der EU", sagte sie. Merkel nahm zu Westerwelles Vorstoß in dem Interview Stellung und nicht, wie von der Opposition gewünscht, im Bundestag. Eine Aktuelle Stunde "zum Schweigen der Kanzlerin" fand ohne die Regierungschefin statt. Sie sollte der Opposition dazudienen, Luft abzulassen, denn bekanntlich haben sich CDU/CSU und FDP darauf verständigt, die Generaldebatte zum Thema Hartz IV erst Mitte März zuzulassen.

Das Erste, worüber sich Grüne, SPD und Linkspartei empörten, war die spärlich besetzte Regierungsbank. "Schauen Sie auf diese Stühle", rief die Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast den Abgeordneten zu und deutete dabei energisch auf die leeren Plätze von Kanzlerin und Vizekanzler: "Sie haben's nicht nötig!" Westerwelle spiele "in niederträchtigster Art" die Armen gegen die Ärmsten aus, und Merkel lasse "die Dinge treiben".

SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil nannte Westerwelle "zynisch", weil er Menschen, die Vollzeit arbeiteten, den Mindestlohn verweigere.

Der eigentliche Skandal, so Heil, sei jedoch "das dröhnende Schweigen der Kanzlerin" zu Westerwelles Attacken auf die Hartz-IV-Empfänger, die in ihrer überwältigenden Mehrheit lieber heute als morgen arbeiten gehen würden. Die Linkspartei hatte Merkel bereits am Morgen aufgefordert, Westerwelle zu entlassen.

Die CDU nannte die Attacken der Opposition unbegründet. Sozialexperte Carsten Linnemann kündigte an, dass die Bundesregierung "Geld in die Hand nehmen" werde, "um Langzeitarbeitslose zu fördern und zu unterstützen". Der FDP-Politiker Heinrich Kolb wies die Opposition darauf hin, dass sich die Kanzlerin lediglich von Westerwelles Sprachstil distanziert, ihm aber in der Sache recht gegeben habe. Westerwelle hatte nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Unterhalt für Langzeitarbeitslose von "spätrömischer Dekadenz" gesprochen und anschließend tagelang nachgelegt.

Die Wähler scheinen das nicht zu goutieren. Zwar konnte die FDP im wöchentlichen Wahltrend von "Stern" und RTL um einen Punkt auf nunmehr acht Prozent zulegen, aber der Parteivorsitzende selbst erhält denkbar schlechte Noten.

Die Frage, ob FDP-Chef Westerwelle für das Amt des Außenministers geeignet ist, beantworteten nicht nur 60 Prozent aller Bürger, sondern auch 56 Prozent der FDP-Wähler mit Nein.

Kein Wunder, dass die Nervosität im liberalen Lager anhält. In der CSU hielt man sich gestern betont zurück. Die Zusammenarbeit in der Koalition funktioniere, sagte Generalsekretär Alexander Dobrindt, aber das Treffen der drei Parteivorsitzenden sei gut und wichtig für die "Chemie". Man werde gemeinsam die "Friedenspfeife" rauchen. Parteichef Seehofer ging mit der Erwartung ins Kanzleramt, dass die Hartz-IV-Streitereien beigelegt werden könnten. "Es wird sich sehr schnell herausstellen, dass die Diskussion völlig überhöht und entbehrlich war", sagte der CSU-Vorsitzende vor seinem Abflug nach Berlin.