Die brutalen Rituale bei den Gebirgsjägern in Mittenwald sollen keine Einzelfälle sein. Der Wehrbeauftragte hat Hinweise auf weitere Entgleisungen.

Sie mussten rohe Schweineleber essen und bis zum Erbrechen Alkohol trinken: Die Aufnahmerituale der Gebirgsjäger in Mittenwald sorgten bundesweit für Empörung und führten zu staatsanwaltlichen Ermittlungen. Jetzt wird bekannt: Mittenwald soll kein Einzelfall und möglicherweise nur die Spitze des Eisberges sein. Der Bundestags-Wehrbeauftragte Reinhold Robbe legte den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses am Montag eine Sammlung von 23 Zuschriften vor, in denen Reservisten über Exzesse bei der Bundeswehr in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten berichten. In zwei E-Mails wird über ähnliche Vorgänge wie in Mittenwald auch im Gebirgsjägerbataillon in Bischofswiesen-Strub berichtet. Zudem enthält die Sammlung Schilderungen über Rituale und Exzesse in anderen Teilen der Bundeswehr, beispielsweise bei der Marine.

Robbe wird voraussichtlich an diesem Mittwoch vor dem Verteidigungsausschuss zu den neuen Erkenntnissen Stellung nehmen. Zuvor wolle er in der Öffentlichkeit keinen Kommentar dazu abgeben, sagte er der Deutschen Presse-Agentur dpa. „Selbstverständlich müssen alle zusätzlich eingegangenen Hinweise überprüft werden.“ Erst dann könne eine Bewertung vorgenommen werden. Der Wehrbeauftragte hatte den Verteidigungsausschuss Mitte Februar über die Aufnahmerituale bei den Gebirgsjägern in Mittenwald informiert.

Zwei E-Mails, die Robbe jetzt an die Abgeordneten übermittelte und die der dpa vorliegen, handeln von ähnlichen Ritualen in Bischofswiesen-Strub, nur wenige Kilometer von Mittenwald entfernt. Die Absender geben an, 1993/94 und 2003/2004 ihren Wehrdienst bei den dortigen Gebirgsjägern geleistet zu haben. „Es werden ein paar Bier um die Wette getrunken, man muss um die Wette unter Stühlen durchrobben, zwischendurch erneut ein paar Bier trinken. Und muss aus einer ekligen Suppe (Stichwort: Rohe Leber) was trinken“, heißt es in einer Mail. In der anderen wird erwähnt, dass es die Rituale „bis vor einiger Zeit“ auch in Reichenhall gegeben habe.

In beiden Schreiben ist die Rede davon, dass die Vorgesetzten von den Ritualen wussten: „Bezogen auf die Dienstgrade muss ich sagen, dass ich davon ausgehe, dass so gut wie jeder Unteroffizier und Feldwebel, der eine Weile dabei ist, weiß was passiert und auch in welchem Umfang“, schreibt einer. In dem anderen Schreiben heißt es: „Zu meiner Zeit hatte nahezu jeder Soldat, der in einem der Gebirgsjägerbataillone Dienst tat, zumindest andeutungsweise von den Dingen gehört, nicht nur die Hochzügler.“

Mehrere weitere Schreiben befassen sich mit Alkoholexzessen und Ritualen in anderen Einheiten. „In meinen Dienstjahren war ich in 3 Einheiten und musste feststellen, dass man als Antialkoholiker in der Truppe einen schweren Stand hat“, heißt es in einem Schreiben unter der Überschrift „Mittenwald ist nur die Spitze des Eisbergs“. „Bei sogenannten Veranstaltungen geselliger Art ist das Trinken von Alkohol praktisch befohlen, ohne dass dies jemand ausspricht.“

Ein ehemaliger Obergefreiter, der zwischen 1996 und 1998 als Zeitsoldat an verschiedenen Standorten im Süden Deutschlands eingesetzt war, berichtet aus seiner Zeit im baden-württembergischen Ellwangen (Jagst) über verschiedene „Spiele“. Beim Spiel „Jukebox“ werde ein Soldat in seinen Spind eingeschlossen und darin dann umgestoßen, während er bestimmte Lieder singen müsse.

Ein anderer Soldat, der vor 20 Jahren auf einem Marine-Zerstörer eingesetzt war, berichtet vom sogenannten „Rotarsch-Ritual“: „Eine Bohnermaschine (eine mobile Maschine mit einer großen elektrisch betriebenen Borstenscheibe) wurde in Betrieb gesetzt und dem Rekruten an den nackten Hintern gehalten, bis dass dieser rot war.“

Robbe teilte den Abgeordneten mit, dass er insgesamt 54 Zuschriften zu dem Fall Mittenwald erhalten habe. Drei Einsender habe er um Konkretisierungen gebeten. Dabei handelt es sich nach Angaben des Wehrbeauftragten um die Schreiben, die sich mit den Vorgängen bei den Gebirgsjägern befassen. Die Textsammlung ließ Robbe auch dem Heeresführungskommando und dem Verteidigungsministerium zukommen.