Der Missbrauchskandal hat Streitkräfte und Politik aufgeschreckt. Es ging darum, in einer soldatischen Hierarchie aufzusteigen.

Hamburg. Der neue Missbrauchskandal bei der Bundeswehr hat Streitkräfte und Politik aufgeschreckt. Die Rekruten der Gebirgsjäger waren in Mittenwald entwürdigenden Ritualen unterworfen worden. Ein Soldat hatte in einer Beschwerde an den Wehrbeauftragten des deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, geschildert, dass die Soldaten im Juni 2009 bis zum Erbrechen Alkohol trinken und rohe Schweineleber hätten essen müssen.

Auch wurden Rollmöpse mit Frischhefe verzehrt - was zu heftigem Erbrechen führte. Es ging darum, in einer soldatischen Hierarchie aufzusteigen, dem "Hochzugkult", und sich als "echte Gebirgsjäger" zu beweisen. In Anlehnung an studentische Verbindungen und Hierarchien wurden Wehrpflichtige "Fux" genannt und mussten für die "Cheflage" putzen und spülen.

Robbe sagte, diese Rituale hätten sich über Jahre herausgebildet und sich immer weiter gesteigert. Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst Ulrich Kirsch, sagte dem Hamburger Abendblatt: "Wenn sich diese Vorwürfe bestätigen sollten, dann müssen diejenigen, die das getan haben und auch die, die weggeschaut haben, zur Rechenschaft gezogen werden."

Der Skandal weckt Erinnerungen an die Vorgänge 2004 im Keller der Kaserne in Coesfeld-Flamschen. Damals hatten Ausbilder des Instandsetzungsbataillons insgesamt 163 Rekruten mit simulierten Geiselnahmen, Stromstößen und Schlägen "zur Härte" erziehen wollen.

Seit Jahrzehnten sind viele Soldaten der Bundeswehr mit Aufnahmeritualen vertraut. In der Regel laufen sie glimpflich ab. Der Autor dieser Zeilen hat als Infanterieoffizier der Reserve bereits in den 70er-Jahren eine ganze Reihe derartiger Rituale miterlebt. Schauplatz war unter anderem eine Kaserne aus der NS-Zeit mit ausgedehnten Luftschutzkellern. In einem langen Flur wurde ein Turnpferd auf Rollen aufgestellt. Der Kandidat musste aufsteigen und durch ruckartige Bewegungen das Gerät vorwärtstreiben. Hatte er eine bestimmte Strecke innerhalb einer festgelegten Zeit nicht erreicht, musste er ein Glas Rum auf ex trinken und dazu ein Stück Zucker essen. Und jede Minute jeweils noch eins.

Motorisch unterbegabte Delinquenten fielen am Ende sturzvoll vom Pferd. Ein anderes Aufnahmeritual sah die Bewältigung eines im Keller aufgebauten Parcours vor - mit verbundenen Augen. Am Ende fiel der Kandidat über ein kippendes Brett in einen Waschzuber. Auch gehörten widerwärtige Getränke, zusammengemischt aus üblen Ingredienzien und in einem Zug zu leeren, zu solchen Ritualen. Verstöße gegen die Regeln der Kampfgemeinschaft wurden streng geahndet: So spülte eine Gruppe, bewaffnet mit großen Feuerlöscheimern, des Nachts einen tief schlafenden Soldaten mit eiskaltem Wasser aus seinem Bett. In selbiger Kaserne sperrte die mit Recht berüchtigte Kampfkompanie einen unliebsamen Kameraden in einen Spind und warf beides aus dem ersten Stock. Der Soldat überlebte, der Spind nicht.

Aufnahmerituale in Armeen dienen dem Zusammenhalt in einer Gemeinschaft von Männern, die sich im Kampf blind aufeinander verlassen müssen. Zudem fördern sie das Gefühl, zu einem auserwählten Kreis, einer Elite zu gehören. Gefährlich wird es, wenn Rituale entgleisen, die Menschenwürde verletzen oder in Misshandlung ausarten. Beim britischen Eliteregiment der Royal Marines mussten 2005 Soldaten nackt im Freien gegeneinander kämpfen; wer sich beschwerte, wurde bewusstlos geprügelt.

In der Schweizer Armee wurden 2008 Rituale bekannt, bei denen Soldaten ein ekelerregendes Gebräu aus Toilettenschüsseln schlürfen mussten. 2006 wurden in der russischen Armee 6700 Rekruten bei brutalen Ritualen misshandelt, 33 starben.

In welche menschlichen Abgründe Mannbarkeits- und Eliteverständnis im Extremfall führen können, zeigt das Beispiel der SS. Nach sakral anmutenden Aufnahmeritualen mussten junge SS-Männer im Krieg durch Morde an Juden und anderen Opfern ihre "Tauglichkeit" und Zugehörigkeit zum Orden beweisen. Ausweis für die entmenschte Geisteshaltung ist die berüchtigte Rede von SS-Führer Heinrich Himmler im Oktober 1943, als er vor SS-Offizieren sagte: "Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 500 Leichen da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - und ein anständiger Kerl geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht."