In den ersten 100 Tagen war die schwarz-gelbe Regierung viel mit sich selbst beschäftigt. Jetzt geht sie zum Angriff auf die Opposition über.

Berlin. Hamburger Abendblatt:

Herr Lindner, nach 100 Tagen an der Regierung hat die FDP mehr als ein Drittel ihrer Wähler verloren. Auch Parteichef Westerwelle ist in den Umfragen abgesackt. Sind die Liberalen besser in der Opposition?

Christian Lindner:

Wer sich an Momentaufnahmen orientiert, der wird langfristige Ziele nie erreichen. Wir halten Wort und setzen aus Überzeugung unser Wahlprogramm um. Ich bin mir sicher, dass wir damit gute Ergebnisse für das Land und die FDP erzielen werden.

Abendblatt:

Mit welcher Note würden Sie den Start von Schwarz-Gelb beurteilen?

Lindner:

Ich werde hier nicht Lehrer spielen. Es war ein ordentlicher Start mit Blick auf die Ergebnisse. Und wir haben inzwischen eine gute Diskussionskultur erreicht. CDU/CSU und FDP dürfen sich nicht länger mit internen Reibereien aufhalten.

Abendblatt:

Die CSU glaubt zu wissen, woran es hakt: Die FDP sei nach Jahren der Opposition noch nicht in der Regierungsverantwortung angekommen ...

Lindner:

Die FDP trägt in den Ländern seit vielen Jahren erfolgreich Verantwortung. Wir haben keinerlei Nachholbedarf, was Realitätssinn angeht. Im Übrigen sind wir an einer guten Zusammenarbeit mit der CSU sehr interessiert ...

Abendblatt:

... deren Generalsekretär Dobrindt unablässig gegen die FDP stichelt.

Lindner:

Die CSU hat scheinbar Machtfragen zwischen München und Berlin zu klären. Ich hielte es für besser, wenn diese Klärungsprozesse intern blieben. Wir sehen die Zusammenarbeit in Hinblick auf die Ergebnisse jedenfalls positiv.

Abendblatt:

Der FDP haftet das Etikett einer "Mövenpick-Partei" an, seitdem die Millionenspende des Milliardärs August Baron von Finck bekannt geworden ist. Wie wollen Sie den Schaden beheben?

Lindner:

Ich bin sehr unglücklich über die Art und Weise, wie in Deutschland der politische Diskurs geführt wird. Herr Gabriel ist dabei, ihn zu vergiften. Ich warne davor, politischen Wettbewerbern unlautere Motive zu unterstellen.

Abendblatt:

Ein Hotelier macht eine Großspende - und Sie senken die Mehrwertsteuer für Hoteliers. Darf einem das nicht merkwürdig vorkommen?

Lindner:

Die FDP hat diese notwendige Entlastung, die vor allem mittelständischen Betrieben zugute kommt, Jahre vor der Spende gefordert. Jeglicher Zusammenhang wird zu Diffamierungszwecken konstruiert. Der Spender ist zudem nicht vorwiegend Hotelier. Ich empfehle also den politischen Wettbewerbern, mit dieser Kampagne aufzuhören. Damit schaden sie den Parteien insgesamt.

Abendblatt:

In Frankreich kann der Eindruck der Käuflichkeit gar nicht entstehen. Dort sind Unternehmensspenden an politische Parteien verboten ...

Lindner:

Neue Regeln für Parteispenden halte ich nicht für erforderlich. Das Parteiengesetz verbietet jetzt schon Spenden, mit denen politische Gefälligkeiten erkauft werden sollen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts brauchen wir in Deutschland ein Band zwischen Parteien und Gesellschaft. Dieses Band zeigt sich auch dadurch, dass Parteien aus der Mitte der Gesellschaft heraus mit finanziert werden. Wir können keine Parteien wollen, die ausschließlich staatlich finanziert sind.

Abendblatt:

Die FDP wird sich entscheiden müssen, was sie sein will: Klientelpartei mit einem Potenzial von acht Prozent oder Partei für das ganze Volk, die auch mal 18 Prozent erreichen kann ...

Lindner:

Wir machen unsere Ziele nicht an Ziffern fest. Wir sind eine Partei, die ein liberales Programm für Deutschland vertritt. Wir sprechen alle Menschen in der Bevölkerung an.

Abendblatt:

Die geplanten Steuerentlastungen stoßen in der Bevölkerung auf Skepsis, weil niemand will, dass Sie die Staatsfinanzen ruinieren. Halten Sie um jeden Preis am Koalitionsvertrag fest?

Lindner:

Wir werden die Konsolidierung der Haushalte und eine faire Entlastung verbinden. Bereits im Haushalt 2010 stellen wir unter Beweis, dass dies möglich ist. Wir bleiben ja unter der noch von Steinbrück geplanten Neuverschuldung und entlasten Familien trotzdem um 4,6 Milliarden Euro.

Abendblatt:

Also bleibt es dabei: Die Bürger werden von 2011 an jährlich um 24 Milliarden Euro entlastet.

Lindner:

Wir haben in der Koalition die Festlegung getroffen, dass wir eine Entlastung im Gesamtvolumen von 24 Milliarden Euro möglichst ab 2011 organisieren wollen. Für die FDP ist wichtig, dass diese Entlastung spätestens 2012 kommt. Für das Datum 2011 haben wir nie die Urheberschaft reklamiert. Das entstammt dem Wahlaufruf der CSU vor der Bundestagswahl.

Abendblatt:

Welche Bedeutung hat die Steuerschätzung im Mai?

Lindner:

Die Steuerschätzung zeigt uns, wie viele strukturelle Einsparmöglichkeiten wir in den öffentlichen Haushalten identifizieren müssen.

Abendblatt:

Wo sehen Sie denn Sparpotenzial?

Lindner:

Anhaltspunkte geben Dokumente wie das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler oder auch die Berichte des Bundesrechnungshofs. Darüber hinaus sind strukturelle Einsparmaßnahmen erforderlich. Da kann man aber nicht aus der Hüfte schießen ...

Abendblatt:

... weil Landtagswahlen bevorstehen in Nordrhein-Westfalen?

Lindner:

Nein, weil wir sorgfältig die Details des Haushalts ansehen müssen. Wichtig ist mir, dass es keine Gegenfinanzierung geben wird nach dem Prinzip: linke Tasche, rechte Tasche. Wir wollen für alle eine echte Nettoentlastung erreichen.

Abendblatt:

Ihre Parteifreundin Homburger sieht Einsparmöglichkeiten im Etat des Familienministeriums und bei der Bundesagentur für Arbeit.

Lindner:

In der Bundesagentur für Arbeit gibt es Programme, deren Wirksamkeit man hinterfragen kann. Sogar die SPD-Politikerin Kraft hat das Beispiel gebracht, dass ein Mann innerhalb kurzer Zeit dreimal den Gabelstaplerschein machen musste - alles finanziert von den Beitragszahlern. Das scheint mir keine effiziente Mittelverwendung zu sein.

Abendblatt:

Was machen Sie, wenn Finanzminister Schäuble sich am Ende weiteren Steuersenkungen verweigert? Aus der Koalition aussteigen?

Lindner:

Ich orientiere mich eher an der Bundeskanzlerin, die über die Richtlinienkompetenz verfügt. Und die Äußerungen von Frau Merkel sind eindeutig: Die versprochenen Entlastungen wird es in dieser Wahlperiode geben. Außerdem hat sich Herr Schäuble bislang auf Punkt und Komma an die Koalitionsvereinbarung gehalten.

Abendblatt:

Im Koalitionsvertrag haben Union und FDP auch den Ausstieg aus dem Atomausstieg in Aussicht gestellt. Jetzt verhandelt die Regierung mit den Energieversorgern über die Details. Bleiben alle 17 Reaktoren in Deutschland am Netz?

Lindner:

Wir haben klare Anforderungen an den Weiterbetrieb. Reaktoren, die modernsten Sicherheitsanforderungen nicht genügen, müssen abgeschaltet werden.

Abendblatt:

Was bedeutet das für den Pannenreaktor Krümmel bei Hamburg?

Lindner:

Wenn ich richtig informiert bin, waren die Störfälle in Krümmel auf der Skala der Internationalen Atomenergiebehörde jeweils niedrig bewertet. Sonst hätte man ja sofort abschalten müssen. Aber ich will der eingehenden Prüfung nicht vorgreifen.

Abendblatt:

Welche Gegenleistung verlangen Sie von den Energie-Konzernen?

Lindner:

Sie müssen einen signifikanten Anteil der zusätzlichen Gewinne in die Entwicklung erneuerbarer Energien investieren.

Abendblatt:

Was ist signifikant? 50 Prozent?

Lindner:

Ich bestätige keine konkreten Zahlen, aber es muss schon ein sehr erheblicher Beitrag sein. Er würde uns helfen, erneuerbare Energien voranzubringen, ohne die Stromkunden zusätzlich zu belasten.

Abendblatt:

Sie haben die Atomkraft im Koalitionsvertrag als Brückentechnologie bezeichnet. Wie lang ist die Brücke?

Lindner:

Das hängt von den technischen Fortschritten bei den erneuerbaren Energien ab. Ziel ist, die Kernenergie so schnell wie möglich entbehrlich zu machen. Das wird allerdings länger dauern als ein Jahrzehnt.

Abendblatt:

Der Bau neuer Atomkraftwerke ist vom Tisch?

Lindner:

Neue Atomkraftwerke sind in Deutschland völlig ausgeschlossen.