Israels Präsident forderte Deutschland und die Welt auf, die noch lebenden Nazi-Verbrecher vor Gericht zu bringen. Nicht aus Rache, sondern “aus Gründen der Erziehung“.

Berlin. Schimon Peres war elf Jahre alt, als er Polen 1934 verließ, um mit seinen Eltern nach Palästina auszuwandern. Der Großvater - "dessen Lieblingsenkel ich war" - stand auf dem Bahnsteig. "Ich blickte ihm durchs Zugfenster nach, bis seine Gestalt verschwand. Es war das letzte Mal."

Wenn eine Geschichte so beginnt, weiß man als Deutscher, dass sie furchtbar enden wird. Und tatsächlich sind die Juden, die damals in Wischnewa zurückblieben, später von den Nazis ermordet worden. Sie starben in der brennenden Synagoge, in der man sie zusammengetrieben hatte. Aber der Mann, der gestern im Deutschen Bundestag an das Verbrechen von Wischnewa erinnerte, erzählte seine Geschichte nicht, um Scham und Schuldgefühle zu befeuern, sondern um anschließend von Frieden und Freundschaft zu sprechen. Und von einem neuen Deutschland, das schon an Israels Seite gestanden habe, "als unsere Wunden noch bluteten".

Es war eine große Rede, die Israels Staatspräsident Schimon Peres in Berlin gehalten hat. Eine warmherzige Rede, voller Großmut und auch voller Optimismus. Die Berater des 86-jährigen Friedensnobelpreisträgers hatten bereits vorher angedeutet, dass Peres diesen Redeauftritt in Deutschland als Gelegenheit sehe, persönlich einen Kreis zu schließen. Peres sprach bewegend vom "außergewöhnlichen Freundschaftsgewebe" zwischen den beiden Staaten. Anders als Ezer Weizman, der 1996 im Bundestag gesprochen hatte und mit seiner Bemerkung, Juden sollten nicht im Land der Täter leben, damals am Rande seines Staatsbesuchs einen Eklat auslöste. Anders auch als Mosche Katzav, der Deutschland eine "wachsende Legitimation neonazistischer Kräfte" attestierte, als er 2005 im Deutschen Bundestag sprach.

Peres kam als Freund. Er begann seine Rede mit dem Kaddisch. Mit den Worten, die jedem Juden heilig sind: "Der, der Frieden in seinen Himmelshöhen stiftet, stifte Frieden unter uns und ganz Israel ..." Als Jude trage er "für immer den Stempel des Schmerzes über den Mord an meinen Brüdern und Schwestern", sagte Peres. Die Schoah müsse den Menschen als ewiges Warnzeichen vor Augen stehen, denn sie werfe bis heute schwierige Fragen auf: "Wie böse kann der Mensch sein? Wie gelähmt ein ganzes Volk? Zu welchen Gräueltaten ist der Mensch fähig? Wie kann er seinen moralischen Kompass abstellen?" Peres sagte, der 27. Januar 1945, der Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, sei zu spät gekommen. "Blut und Asche bedeckten das Lager Auschwitz-Birkenau. Jetzt war es still auf dem Bahnsteig. Die 'Selektionsrampe' war menschenleer. Im Tal des grauenhaften Mordes breitete sich trügerische Ruhe aus." Der 27. Januar stehe deshalb "auch für die Tragödie des Versäumnisses". Offenbar sei die Welt von 1939 an so mit dem Krieg beschäftigt gewesen, dass die Mordmaschine jahrelang ungestört habe arbeiten können.

Peres forderte Deutschland und die Welt im selben Atemzug auf, die noch lebenden Nazi-Verbrecher vor Gericht zu bringen. "In unseren Augen handelt es sich nicht um Rache", sagte er mit Blick auf die junge Generation "Es geht um Erziehung." Um das "Nie wieder": "Nie wieder eine Rassenlehre. Nie wieder ein Gefühl von Überlegenheit. Nie wieder eine scheinbar gottgegebene Berechtigung zur Hetze, zum Totschlag, zur Erhebung über das Recht. Nie wieder zur Verleugnung Gottes und der Schoah."

Schimon Peres erinnerte dann an Konrad Adenauer, der sich bereits 1951 zur Verantwortung Deutschlands für den Holocaust bekannt habe. An die Reparationen, die dem bedrängten Israel "aus seiner Notlage" geholfen hätten. An "die Verteidigungsmittel", die es geliefert habe. "Wir danken Ihnen dafür!" Peres erklärte, das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel sei niemals normal gewesen und müsse und solle deshalb auch niemals normal werden. Beide Länder verbinde eine einzigartige Freundschaft. Die Brücke, die beide Länder über den Abgrund geschlagen hätten, stehe "auf starken moralischen Grundfesten". Dass Bundespräsident Horst Köhler anlässlich seiner Rede in der Jerusalemer Knesset die Schoah als Teil der deutschen Identität bezeichnet habe, "rechnen wir Ihnen hoch an".

Die "Reparationsleistungen", die sich Israel heute von Deutschland für den Ernstfall erhoffe, so Peres weiter, würden in einer anderen Währung gerechnet: "Ein Angriff auf Israel kommt einem Angriff auf Deutschland gleich", zitierte Peres aus der Rede, die Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Oktober vor dem US-Kongress gehalten hatte. Die Drohungen, Israel zu zerstören, kämen von "nicht zurechnungsfähigen Menschen", die Massenvernichtungswaffen besäßen, sagte Peres, ohne den Iran namentlich zu erwähnen. Ebenso wie seine Nachbarn identifiziere sich Israel "mit den Millionen Iranern, die gegen die Diktatur und Gewalt rebellieren", sagte er und fügte hinzu: "Genau wie sie lehnen wir ein fanatisches Regime ab, das die Charta der Vereinten Nationen missachtet." Ein Regime, das mit Zerstörung drohe und Atomkraftwerke und Nuklearraketen besitze, mit denen es sein eigenes Land wie auch andere Länder terrorisiere, sei "eine Gefahr für die ganze Welt".

Peres rief seine Zuhörer - unter ihnen waren Bundespräsident Host Köhler und die Kanzlerin - dazu auf, "an das Gute zu glauben, an die Hoffnung, an das Leben". Der uns allen gemeinsame Gott sei der Gott des Friedens - "nicht der Gott des Krieges". Dann zitierte er aus der israelischen Nationalhymne: "Solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, 2000 Jahre alt zu sein, ein freies Volk in unserem Land, im Lande Zion und Jerusalem." Der Friedensnobelpreisträger endete mit den Worten: "Wir wagen den Traum, und ich bin überzeugt, Sie wagen ihn mit uns: Gemeinsam werden wir diesen Traum auch verwirklichen."

Peres war zuvor von Bundestagspräsident Norbert Lammert im Bundestag begrüßt worden. Lammert sagte, die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel seien "in der Tat keine normalen Beziehungen", weil das Verhältnis beider Staaten nie normal war und werde. Doch inzwischen sei eine Freundschaft entstanden, die sich niemand ernsthaft zu erhoffen gewagt habe. Lammert ergänzte: "Manches ist verhandelbar. Das Existenzrecht Israels nicht."