Der SPD-Parteichef fordert Bundestagspräsident Norbert Lammert auf, nach den sogenannten Hotelier-Spenden juristische Schritte gegen die FDP und die CSU zu prüfen. Und er begründet, warum Oskar Lafontaine besser keine Ratschläge geben sollte, warum er die Linkspartei besonders in Nordrhein-Westfalen für bizarr hält - und warum ihn Andrea Nahles positiv überrascht hat.

Berlin. Hamburger Abendblatt:

Herr Gabriel, Kommentatoren bescheinigen der schwarz-gelben Koalition einhellig einen Fehlstart. Warum hängt die SPD in den Umfragen noch unter dem Bundestagwahlergebnis?

Sigmar Gabriel:

Fehlstart ist ja die Untertreibung des Jahres. Die Rechtskoalition aus Union und FDP ist nicht mal aus ihren Startblöcken herausgekommen und streitet sich täglich über die Laufbahn. Dass die SPD in den Umfragen nicht sofort von der Schwäche der Koalition profitiert, wundert mich nicht. Wir haben die Wahl nicht aus Zufall verloren. Die Leute wollten uns bewusst in die Opposition schicken. Wir müssen jetzt anfangen, eigene Konzepte und Alternativen vorzulegen, die glaubwürdig und nachhaltig sind. Dann kann erst das Vertrauen wieder wachsen.

Abendblatt:

Es gibt das Gerücht, Sie würden Frank-Walter Steinmeier früher oder später den Fraktionsvorsitz streitig machen.

Gabriel:

Blödsinn.

Abendblatt:

Warum?

Gabriel:

Welches Interesse sollte ich haben, einen sehr guten Fraktionsvorsitzenden zu ersetzen? Das wäre doch Quatsch.

Abendblatt:

Sie wären sonst ein einfacher Abgeordneter als Kanzlerkandidat - für Sie gar kein Problem?

Gabriel:

Sie setzen also voraus, dass ich Kanzlerkandidat werde. Das ist eine Unterstellung, die ich nicht bestätigen kann. Ich möchte daran erinnern: Wir sind mit 23 Prozent in die Opposition geschickt worden. Da verbietet es sich, an solche Debatten auch nur zu denken. Ich bin sicher: Außer ein paar Journalisten in Berlin interessiert sich dafür auch kein Mensch.

Abendblatt:

Wer ist denn nun der Oppositionsführer? Sie oder Herr Steinmeier?

Gabriel:

Oppositionsführer ist selbstverständlich Frank-Walter Steinmeier. Und er macht es hervorragend, das haben Sie doch gerade auch in der Haushaltsdebatte gesehen: ein kämpferischer Oppositionsführer mit klaren Konzepten gegen eine Kanzlerin, die taktiert, statt zu regieren.

Abendblatt:

Hat es Sie überrascht, wie gut Sie sich mit Frau Nahles verstehen?

Gabriel:

Dass wir in ganz wichtigen Reformfragen so nah beieinander sind, war bestimmt für uns beide eine Überraschung.

Abendblatt:

Es heißt, Sie hätten nach der Bundestagswahl nicht einmal Nahles' aktuelle Handynummer gehabt.

Gabriel:

Jetzt habe ich sie jedenfalls.

Abendblatt:

Der Weg der SPD zurück in die Regierung gleicht einem Marathonlauf. Wie viele Meter haben Sie schon geschafft?

Gabriel:

Das müssen Sie selbst ausrechnen: Vier mal 365 Tage, minus der Tage seit der letzten Bundestagswahl. Jetzt wissen Sie, wie nah wir an der Regierungsübernahme sind. Mit anderen Worten: Wir haben den Lauf gerade erst angefangen. Aber damit sind wir entschieden weiter als die Bundesregierung. Die sind sich ja noch nicht mal darüber einig, in welche Richtung sie wollen.

Abendblatt:

Das scheint Sie zu erstaunen.

Gabriel:

Das war ja angeblich eine Liebesheirat. Aber dass diese Wunschpartner nicht den Weg ins Ehebett gefunden haben, hat mich schon sehr überrascht. Nicht überrascht hat mich die Wandlung von Angela Merkel. Um der Macht willen setzt sie um, was die FDP, CSU und die radikalisierten Teile der CDU wollen. Nie setzt sie auf ihre eigene Führungskraft. Und sie sieht dabei zu, wie die FDP den Staat zum Feind des Bürgers deklariert und den Staatsbürger zum Steuerbürger degradiert.

Abendblatt:

So wie Sie über die FDP reden, kommt 2013 für die SPD nur Rot-Rot-Grün infrage.

Gabriel:

Mit einer FDP unter Guido Westerwelle und Generalsekretär Christian Lindner können wir sicher nicht koalieren.

Abendblatt:

Linken-Chef Oskar Lafontaine bescheinigt der SPD den Verlust ihres Markenkerns. Wie wollen Sie ihm da widersprechen?

Gabriel:

Oskar Lafontaines Analysen der deutschen Sozialdemokratie will ich lieber nicht kommentieren. Egal in welcher Partei er ist - er glaubt stets, er selbst sei der Markenkern. Die Linkspartei erlebt ja gerade, was das bedeutet. Lafontaine beweist im Umgang mit seinem Geschäftsführer Bartsch, dass er vom Verständnis für die Menschen in Ostdeutschland heute genauso weit entfernt ist wie 1989. Trotzdem wünsche ich ihm, dass er gesund wird.

Abendblatt:

Die Wähler haben den Markenkern der SPD bei der Bundestagswahl offenbar nicht erkannt.

Gabriel:

Das wissen wir. Dennoch behalten wir unseren Markenkern: Wir orientieren uns am Gemeinwohl. Wir wollen den Menschen in der Mittelschicht die Angst vor dem Abstieg nehmen und den Menschen in schwierigen Lebenssituationen den Mut zum Aufstieg zurückgeben. Das sind die beiden Hauptaufgaben der SPD.

Abendblatt:

Verstehen Sie sich als Art Anti-FDP?

Gabriel:

Wir sind keine Anti-Partei. Aber wir wissen, dass nur sehr reiche Menschen auf einen handlungsfähigen Staat verzichten können. Alle anderen brauchen einen Staat, der für gute Kindergärten und Schulen, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit sorgt. Und bei der Finanzierung des Staates muss gelten: Starke Schultern können mehr tragen als schwache. Deshalb finde ich es ja so abenteuerlich, dass einer wie ich mit einem relativ hohen Einkommen durch die Steuerreform der FDP einige Tausend Euro im Jahre geschenkt bekommen würde.

Abendblatt:

In Nordrhein-Westfalen ist mit Jürgen Rüttgers ein CDU-Regierungschef auf dem besten Wege, der SPD in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik das Wasser abzugraben.

Gabriel:

Rüttgers spielt den Arbeiterführer doch nur. Und das auch noch schlecht. Er will die Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger erhöhen, ist aber gleichzeitig gegen Mindestlöhne. Das bedeutet, der Unternehmer, der Tariflöhne zahlt, ist der Dumme. Wenn andere Unternehmen auf Armutslöhne setzen, dann subventioniert der Staat diese Löhne mit Hartz IV. Und die Arbeitnehmer werden gezwungen, Armutslöhne zu akzeptieren und anschließend aufs Amt zu gehen, um Hartz IV zu bekommen. Wir wollen, dass die Leute schnell wieder in Arbeit kommen. Und zwar in Arbeit, von der man auch anständig leben kann - ohne staatliche Zusatzleistungen.

Abendblatt:

Wie will sich die SPD da positionieren?

Gabriel:

Ich finde, wir sind gut positioniert: Die SPD steht für die Orientierung in der Arbeitsgesellschaft und Rüttgers für die Orientierung an der Transfergesellschaft, und Anfang März werden wir sagen, was wir in der Arbeitsmarktpolitik ändern wollen.

Abendblatt:

Auch bei der Rente mit 67?

Gabriel:

Da geht es um die Frage: Was machen wir mit den Leuten, die schon heute nicht einmal bis 65 arbeiten können? Meine Mutter war Krankenschwester. Und ich kann Ihnen sagen: Es gibt keine Krankenschwester, die mit 67 noch einen Patienten heben kann. Deswegen brauchen wir die geförderte Altersteilzeit als Beschäftigungsbrücke. Und wir brauchen flexible Übergänge, die dramatische Einkommensverluste verhindern.

Abendblatt:

In Nordrhein-Westfalen braucht die SPD den Einzug der Linkspartei ins Parlament, um überhaupt eine Regierungsoption zu haben. Eine heikle Ausgangslage, oder?

Gabriel:

Das ist eine Sache von Hannelore Kraft und der NRW-SPD. Ich bin nicht prinzipiell gegen Kooperationen mit der Linkspartei. Aber das kommt immer auf die Programme an. Die Linke in NRW ist gegenwärtig weder regierungsfähig noch regierungswillig. Die wollten Dietmar Bartsch auch deshalb absägen, weil der mit mir frühstücken gegangen ist. Mit Verlaub, das ist doch bizarr.

Abendblatt:

Muss eigentlich die Hotelier-Spende an die FDP ein Nachspiel haben?

Gabriel:

Die zeitliche Nähe der Millionenspende zu einer Entscheidung, die alle Experten als Unsinn bezeichnet haben, ist schon auffällig. Die FDP hat damit aus meiner Sicht gegen das Parteiengesetz verstoßen. Spenden, die der Partei erkennbar in Erwartung oder als Gegenleistung eines bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Vorteils gewährt werden, sind verboten. So steht's wörtlich im Parteiengesetz.

Abendblatt:

Was muss nun getan werden?

Gabriel:

Der Bundestagspräsident muss juristische Schritte gegen die FDP und die CSU prüfen. Er sollte sich dabei ein Beispiel an seinem Vorgänger Wolfgang Thierse nehmen und an dessen Geradlinigkeit in früheren Spendenaffären. Die FDP und CSU müssen die Spende zurückzahlen. Und sie müssen die Mehrwertsteuersenkung für die Hotellerie zurücknehmen. Sonst setzt sich die Bundesregierung dauerhaft dem Verdacht aus, sie sei käuflich. Es gibt ja noch mehr Belege dafür, dass Wirtschaftslobbyisten großen Einfluss auf die Gesundheits- und auf die Umweltpolitik bei dieser Mövenpick-Koalition haben.

Abendblatt:

Wie könnte man Parteispenden vom Verdacht der Einflussnahme befreien?

Gabriel:

Wir könnten Großspenden deckeln, selbst wenn sie gestückelt gezahlt werden. Eine solche Großspende wie die Mövenpick-Spende darf es nicht wieder geben. Es glaubt doch kein Mensch, dass es bei einem solchen Betrag keine Erwartungshaltung gibt.

Abendblatt:

Wie hoch sollten Parteispenden sein dürfen?

Gabriel:

Nicht höher als 100 000 Euro.

Abendblatt:

Kommende Woche ist in London die Afghanistan-Konferenz. Kann Deutschland noch Nein sagen zu einer Truppenaufstockung?

Gabriel:

Natürlich. Wir sollten es bei einer Truppenstärke von 4500 Soldaten belassen. Die SPD wird im Bundestag jedenfalls keiner Erhöhung der Kampftruppen zustimmen. Für den Abschluss des Abzugs schlagen wir den Zeitkorridor 2013 bis 2015 vor.

Abendblatt:

Warum mussten erst die Kirchen die Debatte um Afghanistan antreiben?

Gabriel:

Wenn nicht mal mehr die Kirchen für Frieden streiten, wer dann? Ich habe die Aufregung um Bischöfin Käßmann nicht verstanden. Sie hat doch nicht gesagt: Morgen alle raus aus Afghanistan. Wenn Bischöfe zu glatt geschliffenen Realpolitikern würden, hätten wir ein Problem. Wir brauchen Menschen, die den Mut haben, auch mal grundsätzliche Fragen zu stellen. Nichts anderes hat Frau Käßmann getan.

Abendblatt:

Wie erklären Sie sich dann die Aufregung?

Gabriel:

Die Reaktion zeigt auch das schlechte Gewissen der Politik, dass sie über das schwierige Thema Afghanistan nicht offen geredet hat. Was die Menschen in den Wohnzimmern, am Stammtisch, auf der Straße bewegt, haben wir nicht angesprochen. Wir haben uns das nicht getraut. Das muss sich dringend ändern.

Abendblatt:

Und wie?

Gabriel:

Wir haben am Freitag ja mit der Afghanistan-Konferenz der SPD eine öffentliche Debatte begonnen. Die werden wir weiter führen - in der Partei und in der Gesellschaft. Denn klar ist: Selbst wenn wir den Einsatz in Afghanistan irgendwann beenden, wird das nicht der letzte Einsatz sein, bei dem uns die Uno um militärische Hilfe bittet. Wir müssen jeden Einsatz sauber begründen und ein klares Konzept vorweisen. Sonst wird die Zustimmung der Bevölkerung zu Militäreinsätzen immer geringer. Das kann man auch unseren Soldaten nicht zumuten. Die Debatte selbst ist genau so wichtig wie die Entscheidung, die wir dann treffen.

Abendblatt:

Herr Gabriel, Sie sind seit zehn Wochen Chef der SPD. Hat sich die Partei unter Ihrer Führung schon verändert?

Gabriel:

Die SPD ist jedenfalls nicht in Depressionen verfallen Ich habe den Eindruck, dass viele in der SPD trotz der schwierigen Lage eine neue Begeisterung für Politik entwickelt haben. Ob das jetzt mit mir zu tun hat, weiß ich nicht. Ich neige nicht zu Größenwahn.