Wo sich die Wege kreuzten, wo sie sich trennten - und warum es ein Irrtum ist, erst mit dem Studentenführer sei der Wandel der westdeutschen Republik in Gang gekommen.

Hamburg. Uns haben nur zwei Jahrgänge getrennt. Wir besuchten dieselbe Schule, das altehrwürdige Askanische Gymnasium im West-Berliner Bezirk Tempelhof. Ich machte mein Abitur 1958 und er 1961. Wir studierten beide an der Freien Universität in Berlin, er schrieb nebenbei kleine Fußballberichte für die Springer-Zeitung "B.Z." in der Berliner Kochstraße, um sich ein paar Mark zu verdienen, und ich war politischer Redakteur dieses Blattes. Rudi Dutschke war ein Marxist, ein Antiimperialist und ein fanatischer Studentenführer, ich ein Anhänger der westlichen Demokratie und derer Werte. Zwei junge Männer also, die gänzlich verschiedene Wege gingen und mit der 68er-Revolte in Kopf und Seele konträre Vorstellungen von Demokratie hatten. Er, der eifernde Visionär, der mit verbalen Sturmgeschützen den alten Mächtigen auf den Stühlen der Macht in Regierungen und Universitäten vorwarf, dass sie den bundesrepublikanischen Obrigkeitsstaat fest in ihren Händen halten würden - und ich, der Realist, der neue "faschistische Tendenzen" in der West-Republik nicht erkennen konnte.

In jener aufgeheizten Phase also, über die heute nach 40 Jahren schwadroniert wird, als sei die westdeutsche Republik damals richtungsweisend neu erfunden worden, meldete sich im Februar 1968 eine junge Frauengruppe im Berliner Springerhaus. Ein Pförtner rief die Chefredaktion an: "Hier sind einige Damen vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund, die wollen mit Ihnen über Frauen in einer Männer-Redaktion diskutieren." Der "B.Z."-Chefredakteur ließ sie in die dritte Etage kommen, führte sie durch die Redaktionsräume und stellte ihnen die vielen Redakteurinnen vor - im Feuilleton, im Lokalen, im Layout. Bei Kaffee und Keksen wurde diskutiert, ob männliche Redakteure besser als weibliche bezahlt würden, warum Springer die "Hetze" gegen die Außerparlamentarische Opposition (APO) entfacht habe, wie man zum "US-amerikanischen Imperialismus" stehe - und so ging es zwei Stunden, bis sich die Damen ein wenig echauffiert aus der sogenannten Hochburg des imperialistischen Pressewesens verabschiedeten.

Es war eine ambivalente Zeit. Das Schlager-Bübchen Heintje konnte 1968 monatelang mit den Nummer-eins-Hits "Heidschi Bumbeidschi" und "Du sollst nicht weinen" die Herzen von Millionen Rundfunkhörern erweichen, während draußen auf den Straßen West-Berlins, Hamburgs und Frankfurts Steine flogen, Schaufenster zu Bruch gingen, Verletzte weggetragen wurden und berittene Polizei mit Stöcken auf die APO-Täter einschlug.

Es schien, als würde sich die überragende Mehrheit der Westdeutschen von den wilden Szenen in den Großstädten nicht sonderlich beeindrucken lassen. Sie fühlte sich eher belästigt. Sie nahm das zur Kenntnis und kümmerte sich um ihren Alltag, sie empfand das, was draußen geschah, nicht als Gefahr, eine radikale Minderheit könnte die Bundesrepublik zum Umkippen zwingen.

Rudi Dutschke hatte 1967 davon gesprochen, er würde dafür kämpfen, dass es niemals dazu käme, dass Waffen in die Hand genommen werden müssten, um das bundesrepublikanische System in ein wahrhaft demokratisches zu verwandeln. Schließlich sei man nicht in Lateinamerika. Das war die Zuspitzung in jener Zeit, die suggerierte, der freiheitliche Teil des geteilten Deutschland sei in Gefahr, diese Demokratie zu verspielen. Dutschke versteigt sich in gespenstische Bilder vom Zustand der Republik, er spricht vom "Faschismus in den Institutionen und in den Strukturen" des Landes. Im selben Jahr wird der emphatische Weltverbesserer nach einem Gottesdienst in Berlin von einem Rentner angegriffen. Dieser schlägt mit seinem Krückstock auf Dutschke ein. Später schreibt die "Bild"-Zeitung: "Man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen."

Professor Richard Löwenthal, der Theorieberater der deutschen Sozialdemokraten, ein hoch angesehener Hochschullehrer an der Freien Universität in West-Berlin, warnte die SPD-Führung und besonders den Regierenden Bürgermeister West-Berlins und späteren Außenminister und Bundeskanzler Willy Brandt, sich von solchen Sprüchen beeindrucken zu lassen. Brandt solle an den traditionellen Werten, die die Wählerschichten dieser Partei verkörpern, festhalten. Die Studentenbewegung nennt Löwenthal rückwärts gerichtet einen "Rückfall in den Marxismus".

Anfang 1968 führt Dutschke einen kleinen Demonstrationszug zum Springer-Verlag in die Kochstraße unmittelbar an der Berliner Mauer. Er geht zum Haupteingang und entzündet vor der Drehtür eine Kerze. Ich beobachte ihn vom Fenster meiner Redaktion, gehe hinunter und frage ihn, ob das "etwa ein symbolisches Friedensangebot an das Springer-Unternehmen" sein soll. Dutschke lacht auf: "Nein, das ist nur ein Zeichen dafür, dass es vielleicht zu einem großen Feuer kommen kann." Und so kam es auch - vier Monate später.

Am Nachmittag des 11. April kommt auf dem Berliner Kurfürstendamm ein Mann auf Rudi Dutschke zu und fragt ihn, ob er Dutschke sei. Der sagt Ja. Der Mann zieht aus der Jackentasche eine Pistole und schießt. Drei Kugeln treffen Dutschke, am Kopf und am Hals. Im Westend-Krankenhaus wird das Attentatsopfer mehrere Stunden operiert. Die Leitfigur der 68er-Revolte überlebt, bleibt aber für die restlichen Lebensjahre schwer gezeichnet. Es dauert lange, bis er wieder sprechen kann. Der Attentäter ist Josef Erwin Bachmann, ein Hilfsarbeiter. Er kann kurz nach der Tat gefasst werden, die Polizei entdeckt ihn nach Hinweisen von Augenzeugen des Verbrechens in einem Keller. Bachmann wird wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Er nimmt sich zwei Jahre später in der Haft das Leben.

Die Nachricht von den Schüssen auf den Agitator Rudi Dutschke geht wie ein Lauffeuer durch West-Berlin.

Am späten Abend versammeln sich Tausende Demonstranten und ziehen nach Kreuzberg zum Springer-Verlag. Immer wieder hallen die Sprechchöre in der Kochstraße: "Springer raus aus West-Berlin" und "'Bild' schoss mit". Sie wollen das 19-Etagen-Hochhaus des Verlages und den anschließenden Querbau mit der Druckerei stürmen. Die Polizei kann sie davon abhalten. Stattdessen dringen die Demonstranten auf den gegenüberliegenden Firmenparkplatz vor, werfen Brandsätze und lassen die Lieferfahrzeuge mit druckfrischen Zeitungen in Flammen aufgehen. Ich stehe wieder an der Fensterfront meiner Redaktion und muss zusehen, wie wieder das gedruckte Wort verbrannt wird - wie damals bei den Nazis.

Die Zeit des Straßenkämpfers und Agitators Rudi Dutschke in besetzten Hörsälen ist vorbei. Viele seiner Gleichgesinnten gehen einen noch radikaleren Weg, steuern einem Abgrund entgegen, der schließlich im Terror endet: Kaufhausbrand, Entführungen, Hinrichtungen und langjährige Haftstrafen. Und der, der das Feuer eines Aufrührers und Besessenen in sich hatte und andere entflammen konnte, der Kämpfer gegen das "von einem neuen Faschismus gefährdete System", Rudi Dutschke, starb am 24. Dezember 1979 an den Folgen seiner Schussverletzungen in Dänemark, wo er mit seiner Frau und den drei Kindern lebte.

In diesem Zeitabschnitt mehr als 20 Jahre nach Kriegsende erlagen viele Menschen dem Eindruck, die 68er-Revolte unter Führerschaft Dutschkes hätte an den Grundfesten der Republik gerüttelt, sie zum Erwachen gebracht und einen Prozess zum Wandel in Gang gesetzt. Das aber hatte ohne spektakuläre Wirren, die auf der Straße oder in Seminaren ausgetragen wurden, schon ohne revolutionäre Attitüde viel früher begonnen. Da war die "Spiegel-Affäre" im Jahr 1962 noch unter der Regentschaft Konrad Adenauers, der von Landesverrat sprach und versuchte, die Pressefreiheit so einzuschränken, wie es ihm recht sein konnte. Aber die bundesrepublikanische Öffentlichkeit schrie vor Empörung auf, pochte auf die Pressefreiheit als eine wesentliche Stütze wahrer Demokratie. Adenauer blieb als Verlierer auf der Strecke.

Als ein Jahr später der Auschwitz-Prozess begann und das ganze Grauen der Nazijahre gegen die Juden entfaltet wurde, gab es keine Bewegung in der westdeutschen Bevölkerung, die Vergangenheit doch ruhen zu lassen. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit hat damals begonnen und nicht erst mit den ambitionierten Aufklärern der Spätsechziger.

Nicht anders ist es der propagierten "sexuellen Befreiung" ergangen, die die Sechziger- und Frühen-Siebziger-Bewegungen für sich in Anspruch genommen haben und die dann in dem Bekenntnis "Wir haben abgetrieben" kulminierte. Dieses Raus aus der Prüderie und der alten Enge geschlechtlicher Beziehungen vollzog sich schon lange vorher, jedoch ganz im Stillen ohne propagandistisches Aufsehen. 1961 kam ein Mittel mit dem Namen "Anovlar" auf den deutschen Apotheker-Markt, das das Sexualleben revolutionierte: die Antibabypille. Natürlich kollidierte sie mit moralischen Vorbehalten. Aber sie war ein Stoff, der viele Frauen und Männer aus der Enge einer verklemmten Gesellschaft herausholte.

Im Jahre 2005, Deutschland ist längst wieder vereinigt, die 68er-Bewegung zum Mythos verklärt und Dutschke wäre 65 Jahre alt geworden, kommt ein Geschichtslehrer in unserem alten Askanischen Gymnasium auf die Idee, die Schule in "Rudi-Dutschke-Gymnasium" umzubenennen. Andere wollen seiner mit einer Bronzebüste gedenken. Lehrer und Schüler wehren sich gegen solche Ansinnen. Beide Vorschläge werden begraben.