In vielen Bundesländern weißt die CDU den Weg, in Hamburg und im Saarland diktieren die Grünen die Richtung. Jetzt wehren sich die Gymnasien!

Berlin. Das Hauptquartier der Reformgegner liegt gleich um die Ecke vom Mönckebergbrunnen mitten im Zentrum Hamburgs. Für Passanten stehen in dem Ladenbüro Kaffee und Kuchen bereit, wer auf einer der Listen unterschreiben will, kann sich auf einem Klappstuhl niederlassen. Sie habe in ihrem Schulleben genug schlecht vorbereitete Reformen erlebt und glaube nicht, dass auch die Leistungsstärkeren unter den Fünf- und Sechsklässlern noch richtig gefördert werden können, wenn alle gemeinsam lernten, sagt eine 18-jährige Abiturientin, die in das Kampagnenbüro kommt, um ihren Namen unter die Liste zu setzen. Ein älterer Herr im Kamelhaarmantel erklärt, er sei wegen seiner Enkelkinder hier. "Diese Reform endet im Chaos", ist er überzeugt.

Die Kampagnenzentrale erinnert an ein amerikanisches Wahlkampfbüro. Einsatzpläne mit Notizzetteln hängen an den Wänden, auf einem großen Stadtplan sind Wochenmärkte, Schulen und stark besuchte Orte markiert. Pausenlos klingelt eines der Telefone. Von hier aus schickt sich eine Volksinitiative an, die Schulreform des schwarz-grünen Senats der Hansestadt zu Fall zu bringen. Knapp 62 000 Unterschriften muss sie innerhalb von drei Wochen sammeln, am kommenden Dienstag endet die Frist. "Wir sind sehr gut im Rennen. Wenn es so weitergeht, werden wir es ganz sicher schaffen", sagt Frank Solm Nebelung, Kampagnenleiter der Initiative "Wir wollen lernen". Kommen tatsächlich genügend Stimmen zusammen, gibt es im Juli 2010 ein Volksentscheid.

Es sind keine Revoluzzer, die jetzt in Hamburg den Aufstand proben, zu Tausenden bei Demonstrationen auf die Straße gehen und mit Unterschriftenlisten an den U-Bahnhöfen stehen. Die grün-weißen Aufkleber mit dem Logo "Schulreformchaos? Nein Danke" kleben vor allem in den gutbürgerlichen Stadtteilen am Kühlschrank oder Auto. Auf den Barrikaden sind vielmehr tief verunsicherte Eltern, die um die Zukunftschancen ihres Nachwuchses bangen.

Nicht nur Hamburg krempelt derzeit sein Schulwesen um. Im Saarland plant mit Peter Müller ebenfalls ein CDU-Ministerpräsident eine Bildungsreform. Auch hier konnten die Grünen als neue Koalitionspartner in einem Jamaika-Bündnis ihre schulpolitischen Vorstellungen weitgehend durchsetzen - zum Entsetzen vieler Unionswähler, die die Schulpläne als Angriff auf das Bildungsbürgertum werten.

Unter dem Stichwort "Längeres gemeinsames Lernen" wird im Saarland wie auch in Hamburg die Grundschulzeit ausgedehnt. In der Hansestadt wechseln die Kinder künftig erst nach der sechsten Klasse von der Primarschule auf eine weiterführende Schule. Im Saarland wird die Vorschule zur Pflicht, danach folgen fünf gemeinsame Grundschuljahre. "Mit der längeren Grundschulzeit wird das Gymnasium entwertet", sagte der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger.

Kein Wunder, dass vor allem bildungsnahe Eltern fürchten, dass die verlängerte Grundschulzeit die Bildungschancen ihrer Kinder schmälert.

Vorbild der Bildungsreformer ist Berlin. In der Hauptstadt dauert die Grundschulzeit seit jeher sechs Jahre. Dass Berlin regelmäßig bei den internationalen Pisa-Tests nicht besonders gut abschneidet, ficht Befürworter der verlängerten Grundschulzeit nicht an. Ebenso wenig die Tatsache, dass trotz des längeren gemeinsamen Lernens auch in Berlin vor allem die Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern in den Gymnasien sitzen, während sozial Schwache meist auf der Hauptschule landen. Um die sozialen Unterschiede zwischen den Schulen einzuebnen, will der rot-rote Senat in Zukunft ein Drittel der Plätze an den Gymnasien verlosen. Los statt Leistung - vielleicht macht ja auch bald diese Berliner Spezialität Schule.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Gymnasium hierzulande unter Beschuss gerät. In den siebziger Jahren wurden erbitterte Schlachten um Schulstrukturreformen geführt. Das dreigliedrige System mit Gymnasium, Realschule und Hauptschule galt der SPD als unsoziale Auslese. Das sozialdemokratische Gegenmodell war die Gesamtschule. Mittlerweile aber räumen selbst überzeugte Anhänger dieser Schulart ein, dass die Gesamtschule das Versprechen einer größeren Bildungsgerechtigkeit gar nicht erfüllt. Der emeritierte Pädagogikprofessor Helmut Fend, der die Lebensläufe von mehr als 1500 Personen in Hessen verglichen hat, kommt in einer Studie zu dem eindeutigen Schluss: Egal ob Gesamtschule, dreigliedriges Schulsystem oder eine auf sechs Jahre verlängerte Grundschulzeit - die soziale Herkunft bestimmt unabhängig vom Schulsystem immer mit, welche Schulabschlüsse, Ausbildungen und Berufe die Jungen und Mädchen am Ende erreichen.

Bislang hat das Gymnasium diese ideologisch aufgeheizten Debatten stets unbeschadet überstanden. Mittlerweile wechselt fast die Hälfte der Kinder nach der Grundschule auf das Gymnasium. Unter den Achtklässlern sind bundesweit noch 35 Prozent in einer solchen Lehranstalt, in Hamburg liegt der Anteil gar bei 42 Prozent.

Umso unverständlicher ist es für Fachleute, dass nun erneut der Streit um die Schulsysteme entbrannt ist. "Dass gerade das Gymnasium jetzt angegriffen wird, ist absurd. Denn die Gymnasien haben ihre Leistungsstärke besser behauptet als jede andere Schulart, wie die Pisa-Ergebnisse gezeigt haben", klagt Meidinger als Chef der Gymnasiallehrer.

Nicht nur die verlängerte Grundschulzeit höhlt das Gymnasium aus. Auch der Trend zum zweigliedrigen Schulsystem, dem sich jetzt auch das Saarland und Hamburg anschließen, birgt Gefahren. Neben dem Gymnasium gibt es in der Hansestadt in Zukunft nur noch die Stadtteilschulen, zu denen Real-, Haupt- und Gesamtschulen verschmolzen werden; im Saarland heißen sie dann Einheitsschulen. Auch Berlin plant ein solches Zwei-Säulen-Modell. Dass Bundesländer, in denen die Union den Regierungschef stellt, in die gleiche Richtung marschieren wie das rot-rote Berlin und die dortigen linken Reformer zum Teil sogar noch überholen, bringt die CDU in Erklärungsnot. "Dass die Union in vielen Ländern in der Bildungspolitik kein Profil mehr hat, wird sich bitter rächen", warnt Meidinger. In zehn Bundesländern stellen CDU oder CSU den Ministerpräsidenten. In der Hälfte der Fälle haben sie auf das Bildungsministerium verzichtet.

In Hamburg jedenfalls ist es Bürgermeister Ole von Beust (CDU) bislang nicht gelungen, seiner Klientel die Kehrtwende in der Schulpolitik plausibel zu machen. Noch im Wahlkampf hatte sich die Union zum Garanten der Gymnasien in ihrer bestehenden Form erklärt und die Ängste vor der "Einheitsschule" geschürt.

Doch eben als Wegbereiter dieser "Einheitsschulen" sehen die Kritiker die jetzt geplanten Primarschulen. So wundert es wenig, dass sich vor allem CDU-Anhänger getäuscht fühlen, Briefe an ihre Abgeordneten schicken, um anzukündigen, dass sie nie wieder CDU wählen würden.

Die Stadt ist tief gespalten. Auf dem Spiel steht in Hamburg allerdings noch etwas anderes als das Schulsystem. Derzeit lässt sich schwer vorstellen, wie die Koalition der ungleichen Partner weiterregieren könnte, wenn das einzig verbleibende größere Projekt der Grünen vom Bürger gekippt würde.