Altbundeskanzler Helmut Schmidt spricht im Abendblatt-Interview über den Zustand der SPD, den Start der neuen Bundesregierung, den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr - und darüber, wie er den Gedenktag des Mauerfalls verbracht hat.

Hamburg. Hamburger Abendblatt: Herr Bundeskanzler, wie haben Sie den 20. Jahrestag des Mauerfalls erlebt?

Helmut Schmidt: Am Schreibtisch.

Abendblatt: Den ganzen Tag?

Schmidt: Nein, es gab natürlich Unterbrechungen bei der Arbeit. Ich habe Schach gespielt mit meiner Frau.

Abendblatt: Wer hat gewonnen?

Schmidt: Ich glaube, meine Frau.

Abendblatt: Hätten Sie die Wiedervereinigung gerne im Amt begleitet?

Schmidt: Dieser Gedanke konnte einem ja erst nach 1989/90 kommen. Und da war ich inzwischen über 70 Jahre alt, meine Herren. Ich habe nie im Leben viel auf Wunschträume gegeben. Ich war immer ein ziemlich distanzierter Realist. Aber sicher ist, dass jeder halbwegs ernst zu nehmende deutsche Politiker es gerne gesehen hätte, wenn unter seiner Führung der Prozess der Wiedervereinigung vonstatten gegangen wäre. Die bis dahin im Amt gewesenen Kanzler - Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt - hätten sich ähnlich verhalten wie Kohl. Da bin ich ziemlich sicher. Ob sie alle mit derselben Zähigkeit agiert hätten, ist eine andere Frage.

Abendblatt: Wie weit ist Deutschland auf dem Weg zur inneren Einheit?

Schmidt: Sie haben den richtigen Ausdruck gewählt: Deutschland ist auf dem Weg. Die innere Einheit ist noch nicht in dem Maße erreicht, wie man sich das wünschen würde.

Abendblatt: Ist der Aufbau Ost ein Erfolg?

Schmidt: Was die Infrastruktur angeht: ja. Was die Wirtschaft insgesamt angeht: jein.

Abendblatt: Welche Fehler sind gemacht worden?

Schmidt: Die Fehler wurden schon 1990 gemacht, zum Beispiel die Umstellung der Währung der DDR im Verhältnis eins zu eins auf D-Mark West. Ein Trabi kostete plötzlich 10 000 D-Mark. Das war diese Kiste aber nicht wert. Ein gebrauchter Opel war sehr viel billiger und sehr viel leistungsfähiger als der Trabi. Vor dem 3. Oktober bereits war klar, dass das ganze Trabi-Werk stillgelegt werden musste, weil kein Mensch mehr dieses Auto kaufen wollte.

Abendblatt: Wann werden sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angeglichen haben? Wie lange muss es noch Transferleistungen geben?

Schmidt: Eine Gleichheit der Verhältnisse gibt es nicht. Sie verschieben sich immer wieder. Nehmen Sie die Tatsache, dass bis in die Siebzigerjahre hinein Bayern ein Empfängerland im horizontalen Finanzausgleich war. Und Bremen war mal ein Geberland. Heute ist es umgekehrt. Die ostdeutschen Länder sind verschieden zu beurteilen. Das Land, das bei Weitem am meisten Geld braucht, ist Berlin. Auf der anderen Seite könnte Sachsen mal ein Geberland werden.

Abendblatt: Was entgegnen Sie jenen, die sagen, 20 Jahre nach dem Mauerfall sei Aufbau West die vordringliche Aufgabe?

Schmidt: Die bestehenden Finanzausgleichssysteme sind ungeheuer vielfältig - und insgesamt wahrscheinlich gar nicht so schlecht. Jetzt mit Einzelforderungen aufzutreten, die das System sprengen oder zumindest tief greifend verändern würden, halte ich nicht für sinnvoll.

Abendblatt: Bundeskanzlerin Merkel hat in dieser Woche ihre Regierungserklärung abgegeben. Wie bewerten Sie den Start der schwarz-gelben Bundesregierung?

Schmidt: Es ist ein bisschen früh, darüber eine Aussage zu machen. Sie haben ja noch nicht angefangen zu regieren. CDU/CSU und FDP haben einen etwa 120 Seiten langen Koalitionsvertrag verabredet, in dem viel Richtiges, aber auch viel Überflüssiges steht.

Abendblatt: Zum Beispiel?

Schmidt: In dem Koalitionsvertrag steht, dass die Aktivitäten der Bundesregierung unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Das ist eine entscheidend wichtige Zeile. Die Steuerdebatte, die da zwischen Herrn Westerwelle und der CDU/CSU im Gange ist, wurde ja schon auf das kommende Frühjahr vertagt. Das bedeutet, die Regierung hat zwar die Absicht, die Steuern zu senken. Aber sie weiß nicht genau, wie und zu wessen Lasten.

Abendblatt: Ist es möglich, die Bürger in nächster Zeit massiv zu entlasten?

Schmidt: Ich glaube nicht, dass massive Steuersenkungen jetzt der richtige Weg sind. Aber ich glaube auch nicht, dass die Regierung diesen Weg beschreiten wird.

Abendblatt: Damit würden Union und FDP ihr Kernversprechen brechen ...

Schmidt: Zumindest werden sie sich darauf berufen können, dass in ihrem Koalitionsvertrag ein Finanzierungsvorbehalt steht. Steuersenkungen in massivem Ausmaß wird es nicht geben. Deutschland hat milliardenschwere Konjunkturprogramme auf den Weg gebracht, um die Folgen der Finanzkrise zu dämpfen. Wir werden nicht weitermachen können mit großer Verschuldung.

Abendblatt: Beim Versuch, den angeschlagenen Autohersteller Opel zu retten, hat sich die alte Bundesregierung blamiert. Ist es Aufgabe der Politik, Unternehmen vor dem Untergang zu bewahren?

Schmidt: Im Prinzip nein. Aber es gibt sehr gewichtige Ausnahmen.

Abendblatt: Ist Opel eine solche Ausnahme?

Schmidt: Ich muss Ihnen sagen: Ich habe diese Versuche, Opel oder Quelle oder sonst wen zu retten, für ziemlich abwegig gehalten. Es ist eine große Gefahr, dass die Regierungen und die Parlamente in dieser prekären Lage in die Versuchung kommen, ihre eigene Industrie zu unterstützen. Ich stelle mit Sorge fest, dass alle zum Protektionismus tendieren. Das kann zu weltweiten Wirtschaftskämpfen zwischen Staaten oder Staatengruppen führen. Die deutsche Automobilindustrie jedenfalls würde ich nicht unterstützen.

Abendblatt: Teilen Sie die Empörung über die Entscheidung von General Motors, Opel doch nicht zu verkaufen?

Schmidt: Warum soll ich mich darüber empören? Ich habe mich ja nicht auf die verlassen, und ich haben denen auch keine Versprechungen gemacht. Die Politik sollte sich zurückhalten, wenn es jetzt darum geht, weitere Verpflichtungen gegenüber General Motors einzugehen.

Abendblatt: Der Bundespräsident hat die Finanzmärkte mehrfach als "Monster" bezeichnet. Lässt die internationale Gemeinschaft die Gelegenheit verstreichen, diese "Monster" zu bändigen?

Schmidt: Ich sehe nicht, dass die Finanzmärkte gebändigt werden - weder durch eine internationale Vereinbarung noch innerhalb der Europäischen Union. In Hamburg sagt man: Viel Geschrei und wenig Wolle! Die Gipfeltreffen der G20 haben zahlreiche Absichtserklärungen hervorgebracht, aber niemand verwirklicht etwas davon. Das sieht nicht gut aus. Finanzmanager in New York sind schon wieder dabei, Bonuszahlungen in Milliardenhöhe herauszuhandeln.

Abendblatt: Fehlt es den Staaten an Mut?

Schmidt: Entscheidend sind zwei Länder: Amerika und England mit ihren Finanzzentren New York und City of London. In beiden Ländern ist die politische Klasse nicht geneigt, Banken oder Hedgefonds unter Kontrolle zu bringen. Da gibt es Fonds, die sich mithilfe von Krediten und anderen Kunststücken auf das Zwanzig- und Dreißigfache des Eigenkapitals aufgebläht haben. Und der juristische Sitz ist irgendwo auf einer Insel in der Karibik, wo weder die Rechtsprechung noch die Finanzaufsicht funktionieren. Viele Politiker in Amerika glauben, das nützt den Amerikanern. Ich glaube das nicht.

Abendblatt: Muss Europa voranschreiten, wenn es Amerika nicht tut?

Schmidt: Das wäre schön, wird aber nicht geschehen.

Abendblatt: Großbritanniens Premier Brown fordert eine internationale Spekulationssteuer. Macht er das, weil er weiß, dass sie niemals kommen wird?

Schmidt: Sie haben recht.

Abendblatt: Sie haben den bisherigen Finanzminister Steinbrück für sein Krisenmanagement gelobt. Kann Wolfgang Schäuble das auch?

Schmidt: Der neue Finanzminister ist charakterlich in Ordnung. Er ist zuverlässig, und er ist so gebaut, dass ihm diese enorme Verschuldung, die der Staat bisher schon eingegangen ist, zutiefst zuwider sein muss. Er wird relativ vorsichtig agieren in Zukunft.

Abendblatt: Der neue Verteidigungsminister zu Guttenberg hat von "kriegsähnlichen Zuständen" in Afghanistan gesprochen. Was ergibt sich aus dieser Erkenntnis?

Schmidt: Endlich hat einer mal gesagt, was wahr ist. Daraus ergibt sich aber noch nichts.

Abendblatt: Welche Strategie empfehlen Sie für Afghanistan?

Schmidt: Ich werde mich hüten, eine Strategie zu empfehlen. Fragen Sie Henry Kissinger, der weiß es auch nicht. Fragen Sie Barack Obama, der weiß es immer noch nicht, obwohl er im Wahlkampf große Ankündigungen ausgesprochen hat. Jedenfalls ist es ein Krieg, der in Afghanistan stattfindet. Es ist gleichzeitig ein Bürgerkrieg und ein Partisanenkrieg. Diese Partisanen agieren nicht im Auftrag einer Regierung, sondern im selbst erteilten Auftrag, dem Koran zum Sieg zu verhelfen. Das ist eine ganz schwierige Kiste.

Abendblatt: Was nun?

Schmidt: Der ursprüngliche Zweck der Intervention war, die Terrororganisation al-Qaida in ihren Schlupflöchern am Hindukusch aufzuspüren. Das ist auch gelungen, aber jetzt sind sie alle in Pakistan. Pakistan ist ein Land mit 170 Millionen Menschen und mit Atomwaffen. Und Sie verlangen von mir ein Rezept?

Abendblatt: Ist dieser Krieg überhaupt zu gewinnen?

Schmidt: Kommt darauf an, was Sie mit gewinnen meinen.

Abendblatt: Was verstehen Sie unter gewinnen?

Schmidt: Ich würde nicht von gewinnen sprechen. Wir werden diesen Feind nicht niederkämpfen und anschließend einen Friedensvertrag machen.

Abendblatt: Was soll die Bundeswehr dann noch in Afghanistan?

Schmidt: Sie müssen sich an die Entstehungsgeschichte erinnern. Da gab es das Attentat gegen die beiden Türme in Manhattan am 11. September 2001. Kurz darauf hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Intervention in Afghanistan legitimiert, und die Nato hat den Bündnisfall proklamiert. Deswegen ist Deutschland beteiligt. Völkerrechtlich ist die deutsche Beteiligung völlig in Ordnung.

Abendblatt: Nur völkerrechtlich?

Schmidt: Das habe ich weder gesagt noch angedeutet. Ich habe allerdings Zweifel, ob die Intervention insgesamt zu einem akzeptablen Ergebnis führt. Dieser Krieg dauert schon acht Jahre, länger als die beiden Weltkriege gedauert haben.

Abendblatt: Wäre eine Freiwilligenarmee für solche Auslandseinsätze besser geeignet?

Schmidt: Ein Amerikaner würde diese Frage mit Ja beantworten, ein Engländer auch. Wenn ich es richtig weiß, hat die Bundeswehr nach Afghanistan bisher keine Wehrpflichtigen geschickt.

Abendblatt: Die neue Regierung will die Wehrpflicht auf sechs Monate verkürzen. Ein sinnvoller Schritt?

Schmidt: Die Wehrpflicht war nach meinem Eindruck an der Grenze der Verfassungswidrigkeit, weil sie zu einer unglaublichen Ungleichheit der Einberufung geführt hat. Wenn man von hundert Wehrpflichtigen nur eine Handvoll einberuft, ist das nahe an einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Das wird durch die beabsichtigte Verringerung der Einberufungsdauer etwas gemildert, aber nicht wesentlich.

Abendblatt: Also weg mit der Wehrpflicht?

Schmidt: Die Bundeswehr wurde als Wehrpflichtarmee gegründet, weil Deutschland sich bedroht fühlte durch sowjetische Truppen und Raketen. Diese massive gegenseitige Bedrohung zwischen Ost und West ist weggefallen - und damit auch die Grundlage der Entscheidung für eine Wehrpflichtarmee. Ich bin dafür, über die Schaffung einer Freiwilligenarmee nachzudenken.

Abendblatt: Die Große Koalition ist Geschichte. Gibt es einen Politiker der schwarz-roten Regierung, den Sie vermissen?

Schmidt: Ich will Ihnen von einer ganz anderen Ecke her antworten: In Kontinentaleuropa haben alle Staaten ein Verhältniswahlrecht. Infolgedessen gibt es in allen kontinentaleuropäischen Staaten eine Vielzahl von Parteien im Parlament. Dies führt zu der Notwendigkeit, Koalitionen zu bilden. Das Wechseln von Koalitionen ist etwas Normales. Die Große Koalition war nichts Besonderes, und die schwarz-gelbe ist es auch nicht.

Abendblatt: Ist das SPD-Ergebnis bei der Bundestagswahl auch etwas Normales?

Schmidt: Nein, das ist etwas Besonderes.

Abendblatt: Sie haben einmal gesagt: Auch wenn ich mich noch so ärgere über die SPD, werde ich sie wählen ...

Schmidt: ... ja, natürlich.

Abendblatt: Wie sehr ärgern Sie sich gerade?

Schmidt: Ich bin zu alt, um mich sonderlich zu ärgern. Wenn Sie einmal im 91. Lebensjahr sind, werden Sie sich vielleicht über Ihre Frau noch ärgern. Oder Sie werden sich ärgern über den Husten, den Sie nicht loswerden. Aber über politische Entwicklungen werden Sie sich wenig ärgern.

Abendblatt: Wie haben elf Regierungsjahre die SPD verändert?

Schmidt: Die elf Jahre haben die SPD nicht sonderlich verändert. Aber die Gesellschaft hat sich in dieser Zeit sehr schnell verändert. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden als Arbeiterpartei. Das war auch dringend notwendig. Aber was stellen Sie fest, wenn Sie die Gesellschaft heute angucken?

Abendblatt: Sagen Sie es.

Schmidt: Von 100 beschäftigten Personen in der deutschen Wirtschaft sind nur noch ein Drittel Arbeiter. Zwei Drittel sitzen im Büro. Das ist eine ganz andere Gesellschaft als 1949, als wir angefangen haben, die Ärmel aufzukrempeln und zu arbeiten. Möglicherweise hat die Sozialdemokratie noch nicht in ihrer Breite verstanden, wie sehr sich die Gesellschaft verändert hat.

Abendblatt: Was ist heute die Aufgabe der SPD?

Schmidt: Die SPD muss immer noch dafür sorgen, dass es den Arbeitern gut geht und dass sie eine anständige Rente kriegen, wenn sie alt sind. Aber heute stehen andere Fragen im Zentrum als die der Arbeiterbewegung. Etwa die Frage, ob wir es hinbekommen, die sieben Millionen Migranten in Deutschland zu integrieren. Es gibt keine politische Partei in Deutschland, die die Integration als zentrales Thema begriffen hat - auch nicht die SPD.

Abendblatt: Muss das neue Führungsduo Gabriel und Nahles die SPD neu erfinden?

Schmidt: Zu einzelnen Personen will ich mich nicht äußern. Ich bin seit 1946 Mitglied der SPD. Das sind 63 Jahre. 1946 habe ich zum ersten Mal Plakate gemalt und an die Bäume geheftet für die Sozis. Ich werde auch den Rest meines Lebens für die SPD sein.

Abendblatt: Eigentlich wollten Sie Stadtplaner werden ...

Schmidt: ... als ich 20 Jahre alt war, ja.

Abendblatt: Halten Sie die Gestaltung der Hamburger HafenCity für gelungen?

Schmidt: Sie ist nicht sonderlich originell, und sie ist auch nicht sehr hamburgisch. Das ist mein Eindruck.