Der Regierungschef von Mecklenburg-Vorpommern fordert Kanzlerin Angela Merkel auf, weitere Steuersenkungen zu überdenken.

Schwerin. Regierung und Opposition stehen ernste Tage bevor: Die schwarz-gelbe Koalition muss sich erstmals im Bundestag bewähren, und die SPD will ihren Generationswechsel vollziehen. Vor der heutigen Regierungserklärung Angela Merkels (CDU) warnt der Schweriner Regierungschef vor einem sozialen Kahlschlag durch Schwarz-Gelb. Bei der geplanten Gesundheitsreform fürchtet er besonders starke Belastungen für die Beitragszahler in seinem Bundesland. Wenn Sellering am Wochenende zum ersten SPD-Parteitag seit der verheerenden Bundestagswahlniederlage reist, dann will er dort ein Signal der Geschlossenheit sehen, aber auch einen programmatischen Aufbruch: Die Antworten auf wichtige politische Fragen sollen wieder an der Basis mitentwickelt werden.

Hamburger Abendblatt: Herr Ministerpräsident, wie dankbar sind Sie der neuen Bundesregierung?

Erwin Sellering: Mit ihrem krachenden Fehlstart hat uns die Bundesregierung viele Vorlagen gegeben, sie zu kritisieren. Aber dankbar bin ich dafür nicht. Die Pläne der Koalition sind hochproblematisch. Ich sehe nur, dass die FDP um jeden Preis Steuern senken will. Und das ist nicht finanzierbar. Man kann nicht Ausgaben erhöhen, Steuern senken und gleichzeitig die Schuldenbremse einhalten.

Abendblatt: Immerhin profitiert das Urlaubsland Mecklenburg-Vorpommern von der beschlossenen Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernachtungen.

Sellering: Das stimmt. Den gesenkten Mehrwertsteuersatz sehen wir als Tourismusland positiv. Damit wird ein Nachteil der deutschen Tourismuswirtschaft gegenüber dem europäischen Ausland beseitigt. Es wäre ja auch schlimm, wenn die neue Koalition wirklich alles falsch machen würde.

Abendblatt: Heute gibt Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Regierungserklärung zu den Zielen der Koalition ab. Welche Botschaft erwarten Sie von ihr?

Sellering: Als Regierungschef eines Nordlandes erwarte ich, dass die Kanzlerin offen und ehrlich die Steuersenkungspläne auf den Prüfstand stellt. Das ist das Mindeste, wie sie uns Ministerpräsidenten entgegenkommen kann. Ansonsten erwarte ich nicht viel. Das Regierungsprogramm von Schwarz-Gelb verschärft die Gegensätze zwischen Arm und Reich. Ich sehe mit großer Sorge die bevorstehende Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Abendblatt: Inwiefern?

Sellering:Schauen Sie sich die angestrebte Gesundheitsreform an. Geplant ist die Kopfpauschale. Dann zahlt der Chef so viel Beitrag wie seine Sekretärin. Eine Entsolidarisierung sehe ich auch beim Ausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Der ist nötig, weil in einigen Regionen die Krankheitsrisiken größer sind als in anderen und das Beitragsaufkommen geringer. Noch gibt es dafür einen Ausgleich. Den will Bayern zurückdrehen und die Beiträge regionalisieren. Die Kassen in Mecklenburg-Vorpommern würden dann höhere Beiträge erheben als die Kassen in Bayern. Das wäre sehr problematisch und ungerecht.

Abendblatt: Pünktlich zum Mauerfall-Jubiläum hat der neue Verkehrsminister Peter Ramsauer einen Aufbau West vorgeschlagen. Ist der Aufbau Ost schon durch?

Sellering: Ich finde es unverantwortlich, so zwischen Ost und West zu zündeln. Der Aufbau Ost ist noch nicht durch. Es gibt aber auch dringende Verkehrsprojekte im Westen. Deshalb haben sich die Regierungschefs im Norden auf eine Liste mit dringenden Verkehrsprojekten geeinigt, bei denen wir uns gegenseitig unterstützen. Ich habe den Verdacht, dass Herr Ramsauer vor allem Gelder nach Bayern umlenken will, wenn er vom Aufbau West redet.

Abendblatt: Am Wochenende trifft sich die SPD zum Bundesparteitag in Dresden. Mit welchen Gefühlen fahren Sie dorthin?

Sellering :Uns allen steckt noch die bittere Niederlage bei der Bundestagswahl in den Knochen. Dresden wird die ehrliche Stimmung in der Partei widerspiegeln. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir einen positiven Neustart erleben werden.

Abendblatt: Auch einen programmatischen Neustart?

Sellering: Ja. Wir sind eine Mitgliederpartei. Unsere Stärke war immer, dass die Antworten auf wichtige politische Fragen von unten nach oben entwickelt wurden. Da müssen wir wieder hin. Jedes einzelne Mitglied muss sich einbringen und sagen können: Ich weiß, warum ich in der SPD bin.

Abendblatt: Wie also muss das Signal von Dresden aussehen? Gibt es dort schon den Abschied von der Rente mit 67?

Sellering : Nein, so einfach geht das nicht. Wir brauchen jetzt einen längeren, offenen Diskussionsprozess, auch über unsere Maßnahmen in elf Jahren Regierung. Wir brauchen aber auch das Signal, das wir wieder zusammenstehen und gemeinsam nach vorne blicken.

Abendblatt: Die neue SPD-Spitze will eine offene Debattenkultur. Aber wer welches Amt bekommt, wurde im Hinterzimmer ausgehandelt. Ist das ein glaubwürdiger Neuanfang?

Sellering: Da gab es auch Kritik. Aber es gibt jetzt einen gemeinsamen Personalvorschlag des Präsidiums. Sigmar Gabriel und Andrea Nahles sind auf Basistour. Und dann hat der Parteitag das letzte Wort.

Abendblatt: Wie klar muss sich die SPD nun der Linkspartei öffnen?

Sellering: Wir müssen uns keiner anderen Partei öffnen, sondern unverkrampft mit anderen Parteien umgehen. Bei uns im Land ist der Umgang mit der Linken völlig unproblematisch. Wir haben acht Jahre mit der PDS regiert und machen keinen Unterschied zwischen Linken und CDU. Wir fragen nur: Welche Politik ist mit wem möglich? Zu dieser Einstellung gegenüber der Linkspartei müssen wir auch im Bund kommen.

Abendblatt: Soll sich die SPD der Linken so öffnen, wie Matthias Platzeck in Brandenburg es getan hat, als Versöhnung mit alten SED-Kadern und Stasi-belasteten Politikern?

Sellering: Es geht nicht um die Versöhnung mit SED-Kadern. Es geht um die Versöhnung mit weiten Teilen der Bevölkerung, die sich in der DDR eingebracht und etwas geleistet haben und ihr Leben in der DDR auch heute durchaus positiv sehen.

Abendblatt: Würden Sie persönlich mit ehemaligen Stasi-IM zusammenarbeiten?

Sellering : Natürlich ist es hochproblematisch, wenn jemand als IM für die Stasi tätig war. Ich bin aber dagegen, abstrakte K.-o.-Kriterien aufzustellen.

Abendblatt: Die spannendste Figur der neuen SPD-Führung könnte Ihre Sozialministerin Manuela Schwesig werden. Welche Akzente muss sie als Parteivize setzen?

Sellering: Ganz sicher wird sie sich im Politikfeld Kinder und Familie zu Wort melden. Sie macht einen sehr guten Job als Familien- und Sozialministerin und wird diese Politik auch im Bund vertreten. Sie wird auch das Thema Gesundheit in der Partei nach vorne bringen. Sie wird sehr deutlich machen, wo hier die Unterschiede zwischen uns und der Regierung sind.

Abendblatt: Frau Schwesig wurde bereits mit Angela Merkel verglichen. Ist das förderlich oder hinderlich?

Sellering: Wenn eine junge Politikerin aufgrund ihres großen Talents so rasch aufsteigt, dann sollte man sie nicht überfordern. Sie wird in das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden erst hineinwachsen müssen. Aber sie ist jung genug, sich in dem Amt Stück für Stück zu entwickeln. Ich bin sicher, dass sie eine große Karriere vor sich hat.