Die Grünen-Chefin zur Oppositionsrolle im Bundestag, zur Krise der deutschen Sozialdemokratie und zu neuen Bündnissen mit der CDU.

Berlin. Hamburger Abendblatt: Frau Roth, die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und FDP gehen auf die Zielgerade. Bislang scheint es nicht auf das von den Grünen gemalte schwarz-gelbe Schreckensgemälde hinauszulaufen ...

Claudia Roth: Oh! Da kommt wirklich ein ganz großes "Oh" mit vielen Ausrufezeichen! In Wahrheit macht sich doch wieder die "Methode Merkel" breit. Auf der einen Seite wirft die CDU-Vorsitzende Nebelkerzen, hinter denen sich eine rückwärtsgewandte Politik versteckt, und auf der anderen Seite erinnern die großen Ankündigungen an Herrn Turtur aus Michael Endes "Jim Knopf". Sie erinnern sich? Das war der Scheinriese, der immer kleiner wurde, je näher man ihm kam. Das gilt auch für Union und FDP, denn im Kleingedruckten des Koalitionsvertrages werden wir massive Zumutungen finden.

Abendblatt: Aber die bisherigen Beschlüsse sagen doch etwas ganz anderes: Sittenwidrige Löhne sollen verboten werden, Hartz-IV-Empfänger bessergestellt und neue Atomkraftwerke nicht gebaut werden. Ist das wirklich die schwarz-gelbe Gefahr, vor der Sie gewarnt haben?

Roth: Moment! Die Rücknahme des Atomkonsenses ist ein massiver Rückfall in die Achtzigerjahre, sie ist ein scharfer Angriff auf den inneren Frieden. Damit werden Türen verbaut. Deutschlands Standortvorteil im Bereich der erneuerbaren Energien wird so zunichte gemacht. Und mit ihren sozialpolitischen Beschlüssen hängen sich CDU/CSU und FDP ein soziales Mäntelchen um, das ganz sicher nicht die wärmt, denen in Deutschland kalt geworden ist. Die Erhöhung des Schonvermögens ist zwar richtig und konsequent, aber leider kommen die Koalitionäre nicht im Traum auf die Idee, die Regelsätze zu erhöhen, was dringend notwendig wäre. Und das Verbot sittenwidriger Löhne bedeutet de facto: Die neue Regierung verhindert den überfälligen Mindestlohn.

Abendblatt: Die neue Koalition will Vorreiter im Klimaschutz werden, bei der Klimakonferenz in Kopenhagen will die künftige Bundesregierung sich für ein "anspruchsvolles Klimaabkommen" einsetzen. Das müsste doch Ihren Beifall finden.

Roth: Ja, wunderbar. Ankündigungen gab es nun wirklich genug. Wir erwarten von der neuen Bundesregierung, dass sie jetzt deutlich in Vorleistung geht. Dadurch, dass sie kein einziges neues Kohlekraftwerk mehr baut. Dass sie durch Tempolimits für eine deutliche CO2-Absenkung sorgt. Und dadurch, dass sie das Wärmegesetz entscheidend verbessert.

Abendblatt: Sie warnen also weiterhin vor der schwarz-gelben Gefahr?

Roth: Das ist nicht mein Stil. Allerdings muss es erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass gerade die FDP vor der Wahl viel versprochen hat. Beispielsweise bezüglich der Bürgerrechte, die uns ja auch ein besonderes Anliegen sind. Tatsächlich hat die FDP aber das Prinzip der Vorratsdatenspeicherung und auch der Online-Durchsuchungen akzeptiert. Verabredet wurden nur ein paar kosmetische Korrekturen. Gleichzeitig wird eine Visa-Warndatei eingeführt, die einen Generalverdacht gegen die ausspricht, die nach Deutschland einreisen wollen. Offenbar hat sich die FDP an Wolfgang Schäuble die Zähne ausgebissen.

Abendblatt: In puncto Gesund-heit können sich Union und Li-berale bisher noch nicht einigen ...

Roth: Aber die Verhandlungen zeigen hier bereits, dass der Wahlkampfslogan der FDP - "Mehr Netto vom Brutto" - jetzt schon Makulatur ist. Schließlich ist geplant, dass der Krankenkassenbeitrag einseitig zulasten der Arbeitnehmer und Rentner erhöht werden soll, um die gigantischen Finanzlöcher im Gesundheitssystem zu schließen.

Abendblatt: Im Saarland werden die Grünen künftig mit Union und FDP regieren. Wie passt das zu all Ihrer Kritik?

Roth: Wir unterscheiden aus gutem Grund zwischen Bund und Ländern. Für das Saarland gilt es anzuerkennen, dass unsere Parteifreunde dort sehr genau sondiert haben. Ich nehme das Argument sehr ernst, dass es nicht nur auf inhaltliche Übereinstimmung ankommt, sondern auch auf Verlässlichkeit. Und ich akzeptiere, wenn der Landesverband sagt: Diese Verlässlichkeit ist bei der Linkspartei und Oskar Lafontaine nicht garantiert. Jamaika bleibt aber ein Experiment für das Saarland.

Abendblatt: Das klingt nicht so, als würden Sie sich über Jamaika richtig freuen.

Roth: Was heißt freuen? Wir hätten uns eine andere Konstellation gut vorstellen können. Aber noch einmal: Ein Politiker, der so sprunghaft agiert wie Lafontaine, ist kein vertrauenswürdiger Partner. Verlässlichkeit war übrigens auch bei der schwarz-grünen Koalitionsbildung in Hamburg ein wichtiges Argument.

Abendblatt: Welche Bedeutung hat das Jamaika-Bündnis an der Saar für die strategische Gesamtausrichtung Ihrer Partei?

Roth: Es macht nicht den Weg für schwarz-gelb-grüne Koalitionen im Bund frei, wenn Sie das meinen. Es zeigt, dass wir es ernst nehmen, wenn wir sagen, dass unsere Landesverbände aus der Situation vor Ort heraus autonom entscheiden können, mit wem sie grüne Inhalte umsetzen können, solange es dafür eine deutliche Mehrheit im jeweiligen Landesverband gibt. Eigenständig grün zu sein heißt jetzt aber nicht: Beliebigkeit. Heißt nicht: Macht um jeden Preis. Die Grünen sollten auch nicht den Fehler machen, sich jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen, mit wem sie 2013 in Berlin regieren könnten. Es ist offen, wie sich die Parteien entwickeln.

Abendblatt: Jedenfalls müssten Sie sich doch freuen, dass Sie dank der Bündnisse in Hamburg und an der Saar nicht mehr an eine SPD gekettet sind, die inzwischen zur 20-Prozent-Partei geworden ist.

Roth: Fest steht, die Grünen sind keine Verschiebemasse, die man sich einfach einverleiben kann. Das Problem ist, dass das bei vielen Genossen immer noch nicht angekommen ist. Die SPD erkennt noch nicht an, dass wir sie zum Teil sogar schon überholt haben und größer geworden sind als sie. Wir werden mit der SPD jetzt nicht eine Koalition in der Opposition machen, auch wenn wir der SPD programmatisch weiter am nächsten stehen. Aber die SPD wird sehr gut daran tun - das meine ich übrigens nicht hämisch -, ihren Identitätsfindungsprozess ernst zu nehmen. Damit wieder klar ist, wofür die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert steht.

Abendblatt: Können schwarz-grüne Bündnisse die Gesellschaft verändern?

Roth: Wenn sich, wie am Freitag geschehen, Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust als CDU-Politiker im Bundesrat hinstellt und dafür eintritt, dass niemand aufgrund seiner sexuellen Identität diskriminiert wird, dann hat sich wirklich etwas verändert. Grün sei Dank. Davon sollte man eine Kassette aufnehmen und an alle CDU- und CSU-Ministerpräsidenten verschicken, die im 21. Jahrhundert noch nicht angekommen sind und die Gleichstellung blockieren. Es waren die Grünen, die als erste und lange Zeit allein für die Rechte der Homosexuellen gekämpft haben.

Abendblatt: Wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand Ihres einstigen Koalitionspartners?

Roth: Ich muss mich nicht psychologisch an den Sozialdemokraten abarbeiten. Aber die SPD hat uns lange für unsere Grundsatzdebatten belächelt. Gott sei Dank haben wir darauf nicht verzichtet. Denn jetzt verfügen wir als Partei bei allen Kontroversen, die es hoffentlich weiter geben wird, über ein stabiles Fundament. Im Gegensatz zur SPD wissen wir, wer wir sind, und können deshalb die Oppositionsrolle annehmen. Einer der dümmsten Sprüche von SPD-Chef Franz Müntefering war der Satz: "Opposition ist Mist." Jetzt stehen die Sozialdemokraten ziemlich gelackmeiert da.

Abendblatt: Franz Müntefering hat gerade Oskar Lafontaine die Schuld am SPD-Wahldesaster gegeben. Teilen Sie seine Ansicht?

Roth: Ich kann Augenblicke erinnern, in denen die SPD-Abgeordneten im Bundestag wie gelähmt dagesessen haben, wenn ihr ehemaliger Parteivorsitzender, der einstige Held Oskar Lafontaine, geredet hat. Da konnte man das Trauma mit Händen greifen. Die SPD muss das aber endlich verarbeiten. Sie muss ihr Verhältnis zur Linkspartei normalisieren. Ich wünsche mir, dass die SPD wieder Boden unter die Füße kriegt und begreift, wer sie ist. Dazu gehört, dass Entscheidungen nicht "Basta"-mäßig von oben diktiert, sondern vorher diskutiert werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben damals zur Agenda 2010 in Cottbus einen Sonderparteitag gemacht und uns nicht weggeduckt. Das hat uns starkgemacht.

Abendblatt: Sie halten am nächsten Wochenende wieder einen Parteitag ab. Welches Signal soll von der Veranstaltung in Rostock ausgehen?

Roth: Dass wir Opposition können und diese Rolle annehmen, im Parlament und auf der Straße in breiten gesellschaftlichen Bündnissen. Und dass wir ein Thema wie den Bundeswehreinsatz in Afghanistan immer breit diskutieren. Wenn man eine Partei in entscheidende Debatten nicht einbezieht, dann entsteht ein Oben-unten-Gefühl. Dann passiert das, was die SPD jetzt erlebt. Wir Grüne werden diesen Fehler nicht machen.