Genossen bemühen im Berliner Tempodrom die alte Rhetorik und setzen ganz auf soziale Gerechtigkeit. Steinmeier verteidigt Steuer-Pläne.

Berlin. Die SPD will im Bundestagswahlkampf zu ihren Wurzeln zurückkehren und setzt ganz auf das Thema soziale Gerechtigkeit und Aufstieg durch Bildung. Vor 2500 handverlesenen Genossen gab Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier gestern Nachmittag im stickigen Tempodrom den Startschuss für die heiße Phase der Auseinandersetzung um die Macht im Kanzleramt.

In seiner kämpferischen Rede warb Steinmeier, der am Abend zuvor noch mit Altkanzler Gerhard Schröder dessen 65. Geburtstag nachgefeiert hatte, für einen Neustart der sozialen Marktwirtschaft. "Maßlosigkeit und Gier müssen ein Ende haben, die Wirtschaft wieder den Menschen dienen", rief er.

Die Menschen, das sind für Steinmeier vor allem die "kleinen Leute", als deren Schutzpatron er sich inszeniert. Die, deren Kinder künftig allesamt zum Schulabschluss gebracht werden sollen. Die, die Vollzeit arbeiten und trotzdem oft Hilfe zum Lebensunterhalt benötigen. Steinmeier: "Wenn ein Bankmanager so viel verdient wie 500 Krankenschwestern, dann stimmen die Relationen nicht mehr."

Immer wieder würdigt er auch die vielen Ehrenamtlichen, die sich als Jugendrichter, als Ausbildungspaten oder in Gewerkschaften engagieren, vielerorts sieht er "große sozialdemokratische Tradition" am Wirken. Ganz wie sein Vorbild und Förderer Schröder will er so die eigene Basis für den Endspurt an den Info-Ständen motivieren.

Und ähnlich wie der Altkanzler beschwört er seine eigene Herkunft aus vergleichsweise kleinen Verhältnissen ("Ich stamme ja auch nicht aus einem Elternhaus mit Klavier und Bibliothek"). Will so den bildungspolitischen Forderungen seiner Partei, die schwerpunktmäßig über die Anhebung des Spitzensteuersatzes finanziert werden sollen, Glaubwürdigkeit und Authentizität verleihen.

Dass vieles von dem, was er fordert (etwa die Abschaffung aller Studiengebühren), in die Kompetenz der Länder fällt, ficht Steinmeier nicht an. Das lähmende Gerangel zwischen Bund und Ländern wolle er ja gerade überwinden, ruft er mit erhobener Stimme in den fast voll besetzten Saal, in dessen Mitte er sich wie in einem Boxring präsentiert. Entsprechend kämpferisch fällt auch seine Verteidigung der von der Union attackierten SPD-Steuerpläne im Wahlprogramm aus. Die Anhebung des Spitzensteuersatzes betreffe gerade mal 1,5 Prozent der Steuerpflichtigen: "Keiner muss deswegen an der trockenen Brotkante kauen."

Und anders sei nun mal nicht zu finanzieren, was die SPD wolle: "Gute Kindergärten, Schulen und Universitäten, Straßen ohne Schlaglöcher, Bahnstrecken auch auf dem Land, Ruhe und Ordnung vor der Haustür - all das kann es mit den niedrigsten Steuern der Welt nicht geben." Die Forderungen aus Union und FDP nach umfassenden Steuersenkungen seien deshalb verantwortungslos.

Steinmeier griff auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) direkt an. Die SPD sei anspruchsvoller und ehrgeiziger als die Union. "Wir haben bessere Antworten als die anderen", rief Steinmeier aus.

Die Parteispitze hatte das Regierungsprogramm am Sonnabend einstimmig verabschiedet. Kernpunkte des 57 Seiten starken Manifests, dem am 14. Juni noch ein Bundesparteitag zustimmen muss, sind neben der höheren Reichensteuer ein Lohnsteuer-Bonus von 300 Euro sowie eine neue Börsenumsatzsteuer.

Wohin die Reise an diesem Nachmittag gehen würde, hatte sich bereits vor dem Auftritt Steinmeiers abgezeichnet. Mit der stellvertretenden Bundesvorsitzenden Andrea Nahles, Juso-Chefin Franziska Drohsel und Ottmar Schreiner heizten gleich drei Prominente des linken Parteiflügels dem Publikum ein. Drohsel äußerte dabei auch die Hoffnung auf eine Überwindung des Kapitalismus insgesamt. Zudem beginne jetzt der Kampf "um das endgültige Ende des Neoliberalismus". Schreiner seinerseits schwärmte von der Bildungsreform unter Willy Brandt. Derzeit würden "in unglaublichem Ausmaß" Ressourcen verschleudert.

Den stärksten Beifall aber erntete Parteichef Franz Müntefering mit seiner Retourkutsche für den Linksruck-Vorwurf von CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla: "Wenn man rechts im Straßengraben gelandet ist wie die Union, dann ist die Straßenmitte natürlich relativ weit links."

Verteidigt wird sein Kurs indes auch vom rechten SPD-Flügel. Johannes Kahrs, Sprecher des Seeheimer Kreises, sagte dem Abendblatt: "Nach der Logik von Pofalla müsste die CDU unter Kanzler Helmut Kohl linksradikal gewesen sein. Schließlich lag der Spitzensteuersatz damals bei 53 Prozent."