Vor 800 Chirurgen in Hamburg hat Weltökonom Helmut Schmidt die Ursachen und Folgen der Rezession sowie Heilungschancen der Wirtschaft erläutert. Zuhörer sagten, sie hätten erstmals eine so klare Lagebeurteilung erfahren. Das Abendblatt dokumentiert die Rede in Auszügen.

Helmut Schmidt hat weltweit über fast alle Entwicklungen und Sorgen gesprochen, die die Menschen bewegen. Als er am Sonnabend im Hotel Grand Elysee vor 800 norddeutschen Chirurgen aber zum Thema "Der Patient Kapitalismus" zu sprechen begann, war es dem Altbundeskanzler plötzlich, "als ob ein Herzchirurg vor Meeresbiologen über eine Mondlandung berichten" müsste. "Das Thema meines Vortrages wurde mir von Ihrem Kollegen Prof. Eggers vorgegeben", ließ er die "Meister des Skalpells" wissen. "Ich selbst hätte mir ein etwas einfacheres Thema gewünscht. Denn die Komplexität des Themas verlangt eigentlich ein ganzes Seminar, das sich über mehrere Semester erstrecken müsste."

Gleichwohl verstand er es aber, seine gebannten Zuhörer in nur 50 Minuten über die Krankheitsgeschichte, die Diagnose und die möglicherweise Erfolg versprechende Therapie des Patienten Kapitalismus tiefgründig zu informieren. Die Verursacher der lebensgefährlichen Epidemie - Banker, Politiker, Abgeordnete - schonte er dabei nicht. Unter den hochrangigen Teilnehmern des G20-Krisengipfels von Washington vermochte er im Gespräch mit dem Abendblatt jedoch nur "eineinhalb wirkliche Kenner" zu identifizieren: einen "ganzen Steinbrück" und einen "halben Sarkozy".

Das Abendblatt veröffentlicht, leicht gekürzt, den Vortrag Schmidts, über dessen Diagnose zahlreiche Zuhörer sagten, sie hätten "erstmalig eine klare und vertrauenswürdige Lagebeurteilung erfahren".

Als 1972/73 das 1944 in Bretton Woods geschaffene System fester Wechselkurse der Währungen zusammenbrach, begannen die ersten größeren Währungsspekulationen, ebenso die ersten spekulativen Hedgefonds. In den 1990er-Jahren, als der Kalte Krieg zu Ende gegangen war, als die Dreiteilung der Welt in West, Ost und sogenannte Dritte Welt der Entwicklungsländer der technologischen Globalisierung und der ökonomischen Öffnung Chinas und aller Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion Platz gemacht hatte, nahm der grenzüberschreitende Kapital- und Geldverkehr ein schnell wachsendes Ausmaß an. Zugleich erlaubte die über Satelliten ermöglichte Vernetzung von Computern eine bisher ungeahnte Elektronisierung des globalen Kapitalverkehrs. Die Computer ermöglichten alsbald auch die Schaffung hoch komplizierter und deshalb in ihren Risiken undurchsichtiger neuartiger Finanzinstrumente, sogenannter Derivate und Zertifikate.

Die angloamerikanische Finanzindustrie hat dafür den hochtrabenden Namen "Finanzprodukte" in Gebrauch genommen. Tatsächlich handelt es sich um Hunderttausende von sehr verschiedenartigen Wertpapieren, hinter denen sich vielfältige riskante Konstruktionen verbergen. Die allermeisten dieser Derivate und Zertifikate haben das gemeinsame Merkmal, dass Gewinn und Einkommen des jeweiligen Konstrukteurs und Urhebers von Anfang an gesichert sind, während das Risiko einer Minderung des Wertes eines Derivats oder gar eines Absturzes allein beim Käufer des Papiers liegt.

Nachdem in den letzten 18 Monaten zunehmend viele dieser Derivate und Zertifikate in einer weltweit sich ausbreitenden Vertrauenskrise an Wert verloren haben, sind weltweit Abschreibungen und Verluste in der Größenordnung von mehreren Tausend Milliarden Euro oder Dollar eingetreten. Weil vor allem auch bisher angesehene Banken von enormen Verlusten betroffen sind und niemand weiß, ob morgen oder übermorgen weitere Banken an den Rand des Konkurses geraten oder geschlossen werden müssen, sind die allermeisten Banken seit Monaten sehr vorsichtig geworden, einer anderen Bank auch nur für wenige Tage einen Kredit zu geben, geschweige denn auf längere Frist. Dieses Phänomen hat sich im Laufe dieses Jahres 2008 auch für die Kreditgewährung an Produktionsunternehmungen, an Handelsfirmen und an Privatpersonen ausgeweitet.

Seit Mitte des Jahres 2007 erleben Millionen von Unternehmern und Milliarden von Fernsehzuschauern und Zeitungslesern dergestalt einen Tsunami von schlechten Nachrichten aus der Finanzindustrie. Eine allgemeine Einbuße von Vertrauen in die wirtschaftliche Zukunft war die Folge. Die Aktienkurse an sämtlichen Börsen der ganzen Welt - bis hin nach China! - gingen nach unten. Nicht allein die deutsche Eisenbahn musste deshalb ihren Gang an die Börse auf unbestimmte Zeit verschieben. Überall in der Welt werden Investitionen verschoben. Die weltweite Absatzkrise der Automobilindustrie ist gegenwärtig das sichtbarste Zeichen des weltweiten Nachfragerückgangs. Um es mit anderen Worten zusammenzufassen: Die Krise der Finanzindustrie hat sich in eine Rezession der gesamten Weltwirtschaft ausgeweitet.

Hemmungslose Habgier Selbst die Weltmarktpreise für Rohöl sind drastisch zurückgegangen. Die weltweite Deflation der Nachfrage impliziert die Gefahr eines weltweiten ökonomischen Abschwungs einschließlich steigender Arbeitslosigkeit und einschließlich steigender Not in einer Reihe von armen Entwicklungsländern mit hohem Bevölkerungswachstum. Mit noch anderen Worten gesagt: Wir haben nicht nur den Patienten Finanzindustrie vor uns, nicht nur die Krise der Finanzzentren New York oder London, zugleich ist die ganze reale Wirtschaft bis nach Ostasien, nach Afrika und Lateinamerika zum Patienten geworden. Wenn man der Erkrankung der Weltwirtschaft einen Namen geben will, so könnte man von infektiösem Vertrauensverlust reden.

Im speziellen Falle der Finanzindustrie handelt es sich um zwei eindeutig erkennbare Krankheiten:

Vor allem in New York und London haben wir es zu tun mit einer neuen Kombination von hoher Intelligenz und mathematischer Begabung mit extremer Selbstsucht und Selbstbereicherung bei Abwesenheit von ausreichender Urteilskraft und von Verantwortungsbewusstsein. Man kann dieser Krankheit den Namen geben: hemmungslose Habgier.

Zugleich ist aber eine nonchalante Ignoranz der Regierungen und Behörden in Erscheinung getreten, der politischen Klasse insgesamt, die vornehmlich in den USA und in England sich bis Ende des Sommers dieses Jahres auf die Illusion einer selbsttätigen Heilungskraft der Finanzmärkte verlassen haben, statt rechtzeitig einzugreifen. Es waren die Regierungen und die Parlamente, die eine ausreichende Prophylaxe versäumt haben. Man kann diese politische Krankheit benennen und vom politischen Irrglauben des Marktradikalismus sprechen (...)

Im nächsten Jahr werden in Deutschland sowohl der Sektor der privaten Unternehmen als auch der Wohlfahrtsstaat als auch der öffentliche Sektor von der Weltrezession bedroht. Weil wir uns seit der Vereinigung 1990 zum Exportweltmeister entwickelt haben, sind wir vom Rückgang der Nachfrage auf den Weltmärkten sogar stärker bedroht als die USA und die meisten anderen großen Volkswirtschaften der Welt. Dieser letztere Hinweis führt mich zu den Problemen der Therapie.

Es ist offensichtlich, dass eine etwa auf Deutschland beschränkte Therapie der Rezession nur recht beschränkte Erfolgsaussichten haben könnte. Ein Gleiches gilt für eine auf die Finanzindustrie in Deutschland beschränkte Operation in Richtung auf verstärkte Aufsicht über Institute und auf Sicherheitsstandards für Finanzinstrumente. Sofern jede Regierung nur für den eigenen Staat reagieren würde, und jeder dann auf andere Weise, so bliebe sowohl die allgemeine Therapie der globalen Rezession und Deflation illusorisch als auch die spezielle Therapie der schweren transnationalen Erkrankung der privaten Finanzinstitute und der transnationalen Verbreitung ihrer toxischen Finanzinstrumente. Offensichtlich sind auf beiden Feldern eine transnationale Koordination und ein internationaler Gleichlauf des Handelns der ökonomisch bedeutenden Staaten notwendig.

Das Zögern der Regierungschefs Und schließlich ist es offensichtlich, dass die zu erstrebende gemeinsame Therapie von Rezession und Deflation nur dann nachhaltig gelingen kann, wenn zugleich auf dem Finanzsektor die hier notwendigen chirurgischen Operationen und die Korrekturen staatlicher Nachlässigkeiten die Funktionstüchtigkeit der globalen Finanzmärkte wiederherstellen. Mit anderen Worten: Nur wenn auf den Finanzmärkten das Vertrauen zurückkehrt, kann auch das Vertrauen der Unternehmer und der Konsumenten zurückkehren und dergestalt nachhaltig die Rezession überwunden werden.

Nach langem Zögern hat sich Mitte November endlich ein Konsilium der Regierungschefs der 20 ökonomisch wichtigsten Staaten in Washington zusammengefunden, einschließlich Chinas, Indiens, Russlands, Saudi-Arabiens, Brasiliens, Mexikos - ein sogenannter G20-Summit. Weil das G20-Treffen inhaltlich von den Finanzministern und den Notenbankchefs gut vorbereitet worden war, ist ein zehn Seiten langer Katalog von gemeinsamen therapeutischen Richtlinien und Absichtserklärungen verabschiedet worden. Davon sind viele Punkte auf "immediate actions by March 31st, 2009" gerichtet; andere Punkte dagegen sollen - zweckmäßigerweise - mittelfristig verwirklicht werden. Hervorzuheben sind allerdings zwei Tatsachen:

Der beschlossene Handlungskatalog betrifft ausschließlich den Finanzsektor. Er überlässt die Überwindung der globalen Rezession wie bisher den Staaten und ihren Notenbanken.

Kein Staat hat sich wirklich verpflichtet; die USA, vertreten durch einen "lame duck"-Präsidenten, hätten sich gar nicht verpflichten können.

Am Schluss ein Wort zur Prognose. Ob es rechtzeitig zu ausreichenden, weltweit wirkenden Korrekturen im Finanzsektor kommt, erscheint mir als möglich, keineswegs aber als gewiss. Davon hängt aber auch die Überwindung der globalen Wirtschaftsrezession ab. Denn die Zinssenkungen und die enormen Liquiditätsausweitungen durch die wichtigsten Notenbanken (einschließlich der Europäischen Zentralbank) werden allein kaum eine Rückkehr des allgemeinen Vertrauens in die ökonomische Zukunft bewirken.

In Amerika und auch anderswo in der Welt richten sich heute alle Hoffnungen auf die erwartete Tatkraft des neuen Präsidenten Obama. Der allerdings übernimmt ein sehr unerfreuliches Erbe - einschließlich eines riesigen Haushaltsdefizits und einschließlich der unglaublichen Abhängigkeit der US-amerikanischen Wirtschaft von ausländischen Kapitalimporten in Höhe von alljährlich netto sechs Prozent des amerikanischen Sozialproduktes. Wenn diese laufende Auslandsverschuldung nicht gestoppt werden kann, bleibt eine weitere Abwertung des Dollars unvermeidlich, ebenso eine Aufwertung des chinesischen Yuan oder Renminbi und auch des Euro. Der Euro ist heute zweitwichtigste Währung der Welt, zugleich nach innen und nach außen stabiler als Dollar und Renminbi. Jedoch kann die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank im Alleingang die zur gemeinsamen Euro-Währung vereinigten 15 Staaten nicht vor den Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise und der weltweiten Rezession bewahren.

Keine Krise des Kapitalismus Gleichwohl erscheinen mir diese Prognosen nicht als ausreichender Grund für Pessimismus. Denn ganz anders als 1929/30/31 haben dieses Mal fast alle Regierungen und Notenbanken begriffen, dass sie beherzt eingreifen müssen (das gilt zum Beispiel auch für Kanzlerin Merkel, für Finanzminister Steinbrück und für den EZB-Präsidenten Trichet). Wenngleich die heutige globale Rezession von der Krise des amerikanischen Finanzkapitalismus ausgegangen ist, so handelt es sich nicht schlechthin um eine Krise "des Kapitalismus". Denn weder die Wohlfahrtsstaaten Europas noch etwa die kommunistisch gelenkte Wirtschaft Chinas können unter dem Kapitalismus-Begriff zusammengefasst werden. Wohl aber sind alle von der Krise betroffen.

Jede Krise enthält Gefahren, jede Krise birgt jedoch auch Chancen. Je besser und je mehr die nationalen Regierungen gemeinsam die Chancen ergreifen, desto eher kann die gegenwärtige Krise der Weltwirtschaft überwunden werden.