Hamburg. Gerichte und Jugendämter greifen immer öfter ein, wenn das Wohl der Kinder in Familien bedroht ist. Immer mehr Eltern wird per Gerichtsbeschluss das Sorgerecht entzogen. Im Jahr 2007 stieg diese Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 12,5 Prozent auf 10 769 Fälle. Das sind sogar knapp 23 Prozent mehr als im Jahr 2005, wie das Statistische Bundesamt am Freitag mitteilte. Wäre es nach den Jugendämtern gegangen, hätte die Zahl der entzogenen Sorgerechte sogar noch viel höher, nämlich bei 12 752 Fällen, gelegen. So oft haben sie bei den Gerichten einen Antrag auf Entzug des Sorgerechts gestellt. Das ist eine Steigerung um 18,5 Prozent zu 2006 und um 30 Prozent zu 2005.

Besonders deutlich war dieser Anstieg der entsprechenden Gerichtsbeschlüsse in Bremen. Von 56 Fällen schoss die Zahl der Sorgerechtsentzüge auf 126 nach oben. Der Fall des erst zwei Jahre alten Kevin, dessen Leiche im Oktober 2006 im Kühlschrank seines Stiefvaters entdeckt worden war, hat hier offenbar trotz des neuen Skandals um zwei verwahrloste Mädchen Spuren hinterlassen. "Seitdem sehen die Sozialarbeiter genauer hin", sagt Petra Stern, die Leiterin des Bremer Kinderschutzzentrums. Wer will schon noch einmal die Verantwortung für einen derartigen Todesfall tragen? Bremen folgen im Anstieg der gerichtlichen Sorgerechtsentzüge Niedersachsen und Thüringen, die jeweils ein Plus von 30 Prozent verzeichnen. In Hamburg kletterten diese richterlichen Beschlüsse von 587 auf 644 um 9,7 Prozent.

Der Druck und die Angst vor Fehlern habe in Jugendämtern und Gerichten mit Todesfällen wie Kevin und Lea-Sophie in Schwerin sehr zugenommen, meint auch Thomas Meysen, Leiter des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht. Er warnt jedoch, dass das die "Qualität der Entscheidungen nicht unbedingt" befördere. Druck könne auch kontraproduktiv sein und dazu führen, dass ein Kind zu früh aus einer Familie herausgenommen wird. "Aus der Sicht des Kindes muss das die allerletzte Möglichkeit sein", sagt Meysen.

Erfreulich allerdings sei, dass die Sensibilität in allen Bevölkerungsschichten für die Misshandlung von Kindern gestiegen sei. "Wir nehmen mehr wahr", sagt er. "Ich hoffe, dass das anhält." Denn die Schwierigkeit, den Missbrauch überhaupt erst zu erkennen, ist für ihn das eigentliche Problem. Die Eltern der 2005 in Hamburg verhungerten Jessica (7) etwa hatten das Kind vor der Öffentlichkeit versteckt.

Für die gestiegene Aufmerksamkeit der Jugendämter sprechen auch noch andere Zahlen. Die oftmals als träge und untätig gescholtenen Jugendämter waren 2007 auch bei den Inobhutnahmen deutlich stärker zum Schutz von Kindern und Jugendlichen aktiv als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Rund 28 200 Minderjährige und damit 8,4 Prozent mehr als 2006 wurden kurzfristig in staatliche Obhut genommen. Geradezu explodiert ist 2007 die Zahl der Herausnahmen, bei denen Kinder und Jugendliche gegen den erklärten Willen der Sorgeberechtigten in Obhut genommen wurden. Sie verdreifachte sich fast von 151 auf 435.