Fischer: Sein Rücktritt trifft die Grünen in einem Moment größter Schwäche. Trotz eines passablen Wahlergebnisses muß sich die Partei aller Wahrscheinlichkeit nach auf ein ziemlich tristes Mauerblümchen-Dasein einstellen.

Berlin. Joschka Fischer ist nicht gestorben, allenfalls vom Wahlkampf etwas müde, ansonsten quicklebendig. Doch was den beiden Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth und Reinhard Bütikofer aus der Feder floß, als sie gestern in einem Brief an die Parteigliederungen bis hinunter zu den Ortsverbänden näher auf Fischers Verzicht auf herausragende Ämter in Partei und Fraktion eingingen, das klang wie ein Nachruf.

"Wir danken Joschka für seine Streitbarkeit, seine politische Leidenschaft, seinen großen Willen und seine große Fähigkeit zur politischen Gestaltung unseres Landes nach grünen Werten und für seinen großen Einsatz, wie er ihn gerade im zurückliegenden Wahlkampf wieder gezeigt hat. Joschka hat entscheidend dazu beigetragen, daß wir keine Ein-Generationen-Partei geworden sind und uns heute auch gesamtdeutsch gestärkt sehen." Solche Sätze klingen ganz nach Claudia Roth, der mitunter rührseligen Bayerin, von der jeder weiß, daß sie nahe ans Wasser gebaut hat. Aber bei Lektüre solcher Hymnen dürfte auch manch härter gesottene Basis-Grüne verstohlen zum Taschentuch greifen.

Vermißt wurde Joschka Fischer schon gestern, jedenfalls von Touristen am Reichstag. Als sie dank des Aufmarsches von Journalisten und Fernsehteams Wind von den rot-grünen Gesprächen in der vornehmen Parlamentarischen Gesellschaft vis-à-vis bekamen, gab es dort vor der Haustür einen Menschenauflauf, und einer erkundigte sich im Gewühl: "Ist Fischer noch dabei?" Nein, war er nicht. Dabei war das noch nichts Besonderes. Denn auch in den vergangenen Jahren überließ Fischer Plauderrunden von nachrangiger Bedeutung wie das gestrige rot-grüne Sondierungsgespräch gern anderen aus Partei und Fraktion. Fischer schaltete sich immer erst ein, wenn es wichtig wurde. Er regierte die Grünen ohne offizielle Parteifunktion gleichsam aus dem "off", wirkte, wenn er als Außenminister um den Globus jettete, oft genug wie eine Stimme aus den Wolken. Und was er wollte, wurde in der Regel vom Grünen-Establishment in Berlin gemacht. Der Spitzname "Gottvater" kam nicht von ungefähr.

Ausgerechnet die Grünen, sonst so stolz auf ihre basisdemokratische Prägung, ihren anti-autoritären Habitus und ihre "Männlein-Weiblein-Doppelspitzen", unterwarfen sich dem autoritären Fischer ohne Klage. Das "Alpha-Tier" hatte sich im Laufe der Jahre derart zur herausragenden und dominierenden Führungsfigur gemausert, daß Fischers Abgang die Grünen nun um so härter trifft. Grünen-Fraktionschefin Krista Sager war sogar richtig sauer, daß Fischer inmitten der Wirren um die Bildung der künftigen Bundesregierung seinen Rückzug erklärt hat. "Ich war ärgerlich", sagte Sager dem Fernsehsender N24. "Er hätte ruhig abwarten können, bis sich die Situation etwas gelegt hat."

Fischer hatte den Verzicht auf weitere Ämter am Dienstag der Grünen-Bundestagsfraktion mitgeteilt. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte er schon am Montag ins Bild gesetzt.

Fischers Rückzug aus der vordersten Linie erwischt die Grünen in einem Moment größter Schwäche. Noch hält sich der Katzenjammer der Öko-Partei in Grenzen, weil das Wahlergebnis von 8,1 Prozent sich zumindest in Ziffern noch ganz respektabel ausnimmt. Aber die Grünen müssen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf ein ziemlich tristes Mauerblümchen-Dasein einstellen. Momentan spricht wenig dafür, daß es zur Bildung einer rot-gelb-grünen Ampelkoalition oder einer schwarz-gelb-grünen Schwampel-Koalition kommen wird. Die Grünen müssen sich also auf Opposition gefaßt machen. Im Bundestag stellen sie überdies fortan hinter Linkspartei und FDP nur die kleinste Fraktion. Viel schlimmer aber noch für die Grünen: Sie sind in keinem einzigen Bundesland mehr an einer Regierung beteiligt. Die Grünen müssen deshalb damit rechnen, daß das öffentliche Interesse an ihnen rasch erlahmt und sie ein Nischendasein führen.

Schon aus diesem Grund könnten manche Spitzenpolitiker der Grünen Interesse an der Bildung einer gemeinsamen schwarz-gelb-grünen Ampelkoalition entwickeln. In dieser Konstellation könnten sie im Bund Regierungspartei bleiben. Sie würden überdies bei der Union salonfähig. Schlagartig stünde ihnen dann womöglich auch der Weg zu schwarz-grünen Koalitionen in Bundesländern offen. Auch in der Union gibt es Kräfte, die sich eine grüne Option gern erschließen möchten. So verwundert es viele Politiker in Berlin nicht, daß vor allem Grüne aus dem Süden der Republik mit einer "Schwampel" durchaus liebäugeln, etwa die Finanzpolitikerin Christine Scheel aus Aschaffenburg oder Oswald Metzger aus Baden-Württemberg. Dort im "Ländle" wird im Frühjahr 2006 ein neuer Landtag gewählt. Bisher regieren in Stuttgart CDU und FDP.

Die Grünen wären in Stuttgart auch gern mit von der Partie. Und in früheren Jahren gab es auch Christdemokraten - sogar der konservative Ex-Ministerpräsident Erwin Teufel - in Baden-Württemberg , die Schwarz-Grün als Option in Erwägung zogen. Schon aus diesen Gründen hat die FDP wenig Neigung zur "Schwampel". Die Liberalen wollen sich keine Konkurrenz in den Ländern heranziehen, die mit ihnen um die Gunst von CDU und CSU wetteifert.

Bliebe den Grünen in Berlin aber nur die Oppositionsbank, wären sie um so mehr auf einen herausragenden Charakterkopf und Redner angewiesen, der sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar hält. Besonders in dieser Hinsicht reißt Fischer nun eine Lücke, die nicht leicht zu schließen ist. Denn die Faszinationskraft Fischers, die weit über das Milieu der Grünen hinausstrahlt, entspringt nicht nur seiner einzigartigen rhetorischen Klasse, sondern verdankt sich auch seiner schillernden Biographie.

Die erregte Bewunderung weit hinein in bürgerliche Kreise. Fischer ist ein politischer Selfmademan, der sich fast alles selbst angeeignet hat, was ihn zu einem Star auf der politischen Bühne werden ließ. Das Gymnasium in Stuttgart verließ der 1948 geborene Metzgersohn nach der 10. Klasse. Eine Fotografenlehre brach er ab, ging nach Frankfurt, engagierte sich in der 68er Studentenbewegung, las sich Wissen an. Als militanter Radaubruder war er bei Demonstrationen und Straßenschlachten dabei. 2001 brachte ihn diese Vergangenheit als Steinewerfer politisch gewaltig unter Druck. Da hatte Fischer Turnschuhe und Jeans längst gegen feines dunkles Tuch getauscht, die Dienstkluft eines Außenministers eben.

In jüngeren Jahren hatte Fischer sich mit wechselnden Tätigkeiten seinen Lebensunterhalt verdient, auch als Taxifahrer. Seine politische Heimat fand er schließlich bei den Grünen. Die trieb er mit furioser Wortgewalt und bisweilen auch mit gewaltigem Mut auf regierungsfähigen Kurs. Auf dem legendären Bielefelder "Kriegsparteitag" - es ging um Nato-Einsätze gegen den damaligen Serben-Diktator Slobodan Milosevic - setzte Fischer seinen Kurs unter beispiellos harten Bedingungen durch. Wut und Haß schlugen ihm entgegen in der Halle. Ein Farbbeutel traf ihn am Kopf, zerfetzte sein Trommelfell. Aber Fischer widerstand und wankte nicht. Der Tiefpunkt seiner Karriere als Außenminister war die Visa-Affäre um den massenhaften Mißbrauch von Einreisevisa, der ihn in diesem Frühjahr hart ins Schlingern brachte.

Der mehrfach geschiedene Fischer zeigte auch im Privatleben bisweilen beachtliche Härte gegen sich selbst. In den 90er Jahren hatte er figürlich zeitweise Kohlsches Format. Dann hungerte er sich 30 Kilo herunter, lief Marathon.

Auch solche Geschichten waren es, die Fischer zur herausragenden Figur werden ließen. Aus der Politikermasse ragte er als Typ heraus mit prallem Ego, ausgeprägtem Machtwillen und Instinkt, der eine Partei zu beherrschen und ihre Politik zu prägen wußte. So wie viele Jahre in der Union Helmut Kohl und in der FDP einst Hans Dietrich Genscher. Als die abtraten, dachten viele auch, nun könne es für ihre Parteien kaum weitergehen. Aber ersetzbar, das zeigte deren Geschichte, waren Genscher und Kohl doch. Warum also Fischer nicht auch?