Visa-Affäre: Der Bundesaußenminister gibt sich wortkarg und nebulös, Grünen-Chefin Claudia Roth sagt mit vielen Worten nichts und ist genervt.

Berlin. Gewaltiges Geschiebe und Gedränge herrschte gestern früh gegen halb elf Uhr vor der Parteizentrale der Grünen in Berlin. "Das ist ja hier wie vor der Kiewer Botschaft", grient Umweltminister Jürgen Trittin, als er zur Sitzung des Parteirates anrückt. Vor der Tür hat sich ein Heer von Journalisten aufgebaut, hält Ausschau nach Joschka Fischer in Erwartung plausibler Erklärungen zur skandalträchtigen Visa-Affäre, in deren Zentrum der Vize-Kanzler und Außenminister nach dem Rückzug seines Ex-Staatsministers Ludger Volmer jetzt rückt.

Kurz wirft Parteichefin Claudia Roth vom Balkon einen finsteren Blick auf die Meute vor dem Haus. "Kamelle" ruft ihr ein karnevalistisch inspirierter Zeitgenosse zu. Roth verschwindet augenblicklich. Gute Laune ist gestern Mangelware bei der kleinen Regierungspartei. Auffallend wortkarg drücken sich etliche Spitzen-Grüne an der Hauswand vorbei hinein ins Grünen-Hauptquartier am Platz vor dem Neuen Tor.

Dort will Fischer Auskunft geben über die Visa-Affäre. Über mehrere Jahre hinweg hatte das Auswärtige Amt trotz schriller Alarmrufe aus deutschen Botschaften, aus dem Bundesinnenministerium und dem Bundeskriminalamt nach Lesart der Opposition tatenlos einem gewaltigen Mißbrauch der Visa-Praxis zugesehen.

Kurz vor elf wird Fischer vorgefahren, walzt im Geschwindschritt heran, Pressesprecher und Bodyguards im Schlepptau. Im unwirtlichen Schneegestöber gibt Fischer ein paar knappe Minuten lang Auskunft, verschwindet dann ins Haus, ehe ihm Frager zusetzen könnten.

Es sei "schlichtweg nicht zulässig", den sogenannten Volmer-Erlaß für die Vorgänge in Kiew verantwortlich zu machen, behauptet Fischer. Es seien vielmehr "im wesentlichen von der Vorgängerregierung", also der Regierung Kohl eingeführte Verfahren gewesen, die dazu geführt hätten. Beim Volmer-Erlaß sei es um "Erleichterungen im Zusammenhang mit Wissenschaft, Familienzusammenführung und auch mit Wirtschaft" gegangen. Die Kohl-Regierung hat also Schuld?

Die Kohl-Regierung hatte in der Tat unter anderem ein "Carnet de Touriste" eingeführt, eine Art Reiseversicherung, die etwa im Krankheitsfall für alle Kosten eines Besuchers mit Visa aufkommen sollte. Doch zum Kummer etwa des Grünen Volmer gab es aus der Kohl-Zeit eine Weisung an die Visastellen an den deutschen Auslandsvertretungen, ihren Ermessensspielraum "so restriktiv wie möglich zu nutzen".

Das änderte sich mit einer Weisung aus dem nunmehr von Fischer geführten Auswärtigen Amt im Oktober 1999 und erst recht mit dem Volmer-Erlaß vom März 2000. Da wurden die Botschaften angewiesen bei Visa-Anträgen "in dubio pro libertate" zu entscheiden, in Zweifelsfällen also Visa zu genehmigen. Wer nun über ein CdT oder einen Reiseschutzpaß verfügte, bekam nun faktisch sein Visum meist ohne weitere Prüfung.

Nun kam es zum Massenansturm auf die Botschaft in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dort gab es die niedrigste Ablehnungsquote Im Zwei-Minuten-Takt wurden Visa ausgestellt, offenbar nach dem Motto: Augen zu und Stempel drauf. Schleuser und Kriminelle betrieben fortan einen schwunghaften Handel mit Reiseschutzpässen dubioser Anbieter. Visa-Erschleichung war nun simpel. Illegale Arbeitskräfte, Kriminelle und Zwangsprostituierte konnten leicht nach Deutschland gebracht werden. Massenhaft kam es zu Mißbrauch. Zugleich häuften sich die Alarmmeldungen über Mißstände und mafiöse Zustände ans Auswärtige Amt. Doch dort wurde erst mit großer Verzögerung gehandelt.

Es sei ja nicht so, daß mit Rot-Grün Schleuserkriminalität und Zwangsprostitution begonnen hätten, wendet Fischer ein. Zu Details will er sich nicht äußern, bevor er im Untersuchungsausschuß war. Ob er selbst Fehler gemacht hat, sagt er zunächst nicht. Wann er was wußte von Mißständen, sagt er auch nicht. Er sagt nur: "Für mögliche Versäumnisse und Fehler meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trage ich die politische Verantwortung." Was das heißt, bleibt am Mittag offen. Für Fragen bleibt keine Zeit.

Aber was Fischer nicht beantwortet, wird nach der Parteiratssitzung Grünen-Chefin Roth gefragt, nachdem sie ausgiebig die Opposition beschimpft hat. Mit sehr vielen Worten sagt Roth in der Sache nahezu nichts, betont nur immer wieder, wie geschlossen die Grünen hinter Fischer stehen. Nach einer halben Stunde will sie nicht mehr. Die Fragen gehen ihr erkennbar auf die Nerven. Abrupt beendet sie die Pressekonferenz und rauscht mit hochrotem Kopf und beleidigter Miene davon.