Ideal und Irrtum: Stellenabbau, Rentenkürzung, Praxisgebühr: Viele beklagen schon das Ende des Wohlfahrtsstaates. Jedoch: Längst nicht alles, wo “sozial“ draufsteht, ist es auch. Ein paar kritische Fragen - und deutsche Missverständnisse.

Meckenheim. Trotz mancher Probleme melden deutsche Konzerne dieser Tage wieder Milliardengewinne. Gleichzeitig bauen sie Tausende von Stellen ab. Profit plus Entlassungen - verliert das deutsche Modell der Marktwirtschaft sein Adjektiv "sozial"?

Der Deutschen Telekom gelang es im letzten Jahr, ihren Rekordverlust 2002 von fast 25 Milliarden Euro in einen Überschuss von gut einer Milliarde zu drehen und gleichzeitig den Schuldenberg eindrucksvoll abzubauen. Der Volkswagen-Konzern stöhnt zwar unter einer Absatzkrise, verbucht aber gleichwohl einen Überschuss von 1,5 Milliarden. Beide Unternehmen - und nicht nur sie - planen dennoch einen beträchtlichen Personalabbau.

Auch wenn die Belegschaften "sozialverträglich" schrumpfen sollen - steht nicht der Gewinn auch den Mitarbeitern zu, die ihn durch ihre Arbeit erwirtschaftet haben? Können die Überschüsse nicht dazu verwendet werden, um auch jene Mitarbeiter auf den Lohnlisten zu belassen, die nicht so kostengünstig arbeiten?

Die Frage über den Gewinn und seine Verwendung ist gespickt mit Emotionen, Anklagen und Rechtfertigungen. Unbestritten ist jedoch, dass "die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen sind", wie der einstige Bundeskanzler Helmut Schmidt es einmal formulierte. In den beiden Konzernen Telekom und VW sind die Investitionen etwa fünf- bis sechsmal so hoch wie der Gewinn.

Aus dem Gewinn müssen ferner Steuern gezahlt werden. Sofern eine leistungsabhängige Entlohnung vereinbart wurde, bekommen auch die Mitarbeiter einen Anteil. Schließlich müssen die Eigentümer des Unternehmens - in Konzernen meist Aktionäre, zu denen auch die Belegschaften gehören - mit einer Dividende dafür belohnt werden, dass sie dem Unternehmen ihr Geld zur Verfügung gestellt haben (bei der Telekom gehen sie derzeit leer aus).

Diese Mechanismen verlieren indes dann jegliche Rechtfertigung, wenn kaltherzige Technokraten nur noch nach Shareholder-Value-Manier die Konzerne steuern; wenn freche Bosse zweistellige Millionenabfindungen ohne den Funken ethischen Unrechtsbewusstseins kassieren - wie Ex-Mannesmann-Chef Klaus Esser dank der Mithilfe des heutigen Deutsche-Bank-Vorstandssprechers Josef Ackermann; und wenn sich sogar solche Manager, die Verluste einfahren, steigende Gehälter bewilligen.

Auf das deutsche Modell der Sozialen Marktwirtschaft prasseln kritische Fragen ein. Wird das Menschliche im gewaltigen Räderwerk zwischen Kostendruck und Globalisierung zermahlen? Schnurren Mitarbeiter zu Kostenstellen zusammen? Und in Richtung Politik: Stiehlt sie den Arbeitnehmern klassische Sozialrechte wie sichere Altersversorgung, Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall? Alles bündelt sich zu der Kernfrage: Wie sozial ist die Soziale Marktwirtschaft noch?

Ist es sozial, allen Eltern Kindergeld und allen ein kostenloses Studium zu gewähren, auch wenn es sich um Millionäre handelt? Ist es noch fair, wenn ein Maler den Lohn von sechs Arbeitsstunden aufwenden muss, um sich auch nur eine einzige Elektrikerstunde leisten zu können? Entspricht es sozialer Gerechtigkeit, auch Personengruppen eine Rente zu zahlen, obgleich sie keinen Cent Beitrag entrichteten? Wie sozial ist jener Blankoscheck, den wir Krankenschein nennen, von dem wir nur wissen, dass viele ihn ausbeuten, weil schließlich "die anderen" ihn bezahlen? Kündigungs-, Mutter- und Behindertenschutz sind wichtige soziale Errungenschaften; aber wie sozial wirken sie, wenn sie sich als Einstellungsbarriere für Arbeitnehmer, junge Frauen oder Behinderte auswirken?

Was ist eigentlich sozial? Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft fragte Prominente und erhielt deutungsfähige Antworten. "Sozial ist, wer durch eigene Leistung zum Wohlstand für alle beiträgt", meinte der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer. Die Unternehmerin Britta Steilmann sagte: "Sozial ist es, die Starken und die Schwachen zu stärken." Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble äußerte, sozial sei, "wer sich nicht nur auf andere verlässt". Der Unternehmensberater Roland Berger gab eine Antwort, die seit einigen Jahren als Favorit gilt: "Sozial ist, was Arbeit schafft."

Soziale Gerechtigkeit sei ein "Wieselwort", meinte der liberale Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich A. von Hayek (1899-1992). Das Wiesel pflege Eier zu stehlen und sie auszusaugen, wobei man von außen nicht erkennen könne, ob sie noch ein Dotter oder nur warme Luft enthielten. "Mehr als zehn Jahre habe ich mich damit befasst, den Sinn des Begriffs ,soziale Gerechtigkeit' herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert", sagte Hayek. Es handle sich um einen "quasi-religiösen Aberglauben", dem man jede beliebige Bedeutung unterschieben könne.

Machtvoll bleibt das Soziale gleichwohl. Wenn ein Politiker einen anderen ins Mark treffen will, nennt er ihn einen "sozialen Demonteur", zeiht ihn des "Sozialabbaus" oder klagt ihn der Zwei-Drittel-Gesellschaft an (bei der es einem Drittel elend geht). Basta. Das sitzt.

Bis heute enthält die Soziale Marktwirtschaft jedoch ein Missverständnis: den Glauben, dass der kapitalistische Markt erst durch das Adjektiv "sozial" Adel und Akzeptanz erhalte. Das unangenehme und zuweilen chaotische Spiel von Angebot und Nachfrage werde durch soziale Wohltaten abgemildert, erhalte ein menschliches Gesicht.

Ein fundamentaler Irrtum. Die Marktwirtschaft ist nicht deswegen sozial, weil sie möglichst viel Geld an möglichst viele Bürger austeilt, sondern nur aus einem Grund: Weil sie leistungsfähig ist und im Wettbewerb Wohlstand erzeugt. Genau dadurch, dass aus diesen Wohlstandsgewinnen die Schwächeren unterstützt werden können, gewinnt das Modell seine soziale Dimension.

So ist es beispielsweise keineswegs sozial, ein Drittel des Sozialprodukts von rund zwei Billionen Euro - und möglichst immer mehr - an sozialen Leistungen auszuschütten. Damit entmutigt man die Menschen, für sich selbst zu sorgen und bremst gleichzeitig den Wohlstandsmotor aus. Die deutsche Marktwirtschaft ist also kein Umverteilungs-, sondern ein Fitness-Programm. Ihre Solidarität gilt nicht allen, die nach Staatsknete rufen, sondern nur den wirklich Schwachen. In der EU hat sich dafür das Prinzip der Subsidiarität eingebürgert: Hilf dir zuerst selbst, bevor du nach Staatshilfe rufst!

Zugespitzt: Der rundherum fürsorgende Wohlfahrtsstaat markiert nicht den Anfang, sondern das Ende der Sozialen Marktwirtschaft, die nach dem Kriege das "Wirtschaftswunder" eröffnete. Dessen Vater Ludwig Erhard Wirtschaftsminister und zweiter Bundeskanzler, meinte: "Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du Staat dafür, dass ich dazu in der Lage bin."

Vor diesem Hintergrund stellen sich die aktuellen Fragen - Kündigungsschutz, Praxisgebühr, Lohnfortzahlung, Kita-Plätze, Mindestrente - in anderem Licht. Sind die Regelungen sozial, weil sie bestimmte Gruppen bescheren oder weil sie Arbeit schaffen und die Leistung fördern?

Die jeweils lauteste Gruppe mit Nettigkeiten zu befriedigen verhindert, dass den wirklich Schwachen geholfen wird. Eigeninitiative und Leistung zu belohnen, ist ebenso sozial wie alle Hürden abzuräumen, die einem neuen Job im Wege stehen. Wer mehr Wettbewerb zulässt - in der Wirtschaft, im Bildungswesen, in Amtsstuben, in den Sozialsystemen -, fördert den Sozialstaat. Der größte und schreiendste Sozialskandal ist schließlich die Tatsache, dass eine Volkswirtschaft auf die Arbeit, die Leistung und die Fantasie von fast fünf Millionen ihrer Mitbürger verzichtet.

Ein amerikanischer Journalist meinte bei einem Deutschland-Besuch: "Ihr seid ein merkwürdiges Volk - bei euch bekommt man die höchsten Löhne, wenn man überhaupt nicht arbeitet." Wie bitte? "Na, zu Weihnachten und im Urlaub, denn da gibts neben dem Gehalt noch Sonderzuschläge." Der deutsche Sozialstaat unter anderem Blickwinkel.