Schule und Studium im Eiltempo - und keine Zeit, politische Verantwortung zu lernen. Andreas Voßkuhle sieht darin eine Ursache der Finanzkrise. Der Richter fordert Korrekturen, auch beim Wahlrecht.

Karlsruhe. Hamburger Abendblatt:

Das Grundgesetz wird 60 - ein bewegender Moment für den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in spe?

Andreas Voßkuhle:

Das nicht. Es hat zwar seinen guten Sinn, dass wir alle zehn Jahre innehalten und zurückblicken: Wie war die Entwicklung? Ist das Grundgesetz immer noch akzeptiert? Aber ich kann nicht sagen, dass ich jetzt ein tiefes Bedürfnis hätte zu feiern.



Abendblatt:

Woran liegt das?

Voßkuhle:

Das Grundgesetz ist eine junge Verfassung, die sich weiterhin bewähren muss. Der Erfolg in der Vergangenheit darf nicht dazu führen, dass wir uns ausruhen. Es gibt viele Herausforderungen, die vor uns liegen. Letztlich muss die Verfassung jeden Tag neu ins Leben gesetzt werden.



Abendblatt:

In diesem Jahr wird der Bundestag neu gewählt, ebenso mehrere Landtage und das Europaparlament. Wie erklären Sie sich, dass immer weniger Menschen zur Wahl gehen?

Voßkuhle:

Das ist eine Entwicklung, die mich bedrückt. Es ist problematisch und gefährlich, dass sich die Bevölkerung abwendet vom politischen Prozess und dass die Akzeptanz von Politikern schwindet. Wir müssen innerhalb der Gesellschaft mehr Interesse für Politik wecken.



Abendblatt:

Auf welche Weise?

Voßkuhle:

Das fängt in der Schule an. Wir brauchen einen Unterricht, in dem politische Fragen diskutiert werden. An der Universität müssen Studenten die Zeit bekommen, sich politisch zu engagieren.



Abendblatt:

Geschieht das nicht?

Voßkuhle:

Ich habe ja noch meinen Lehrstuhl an der Universität Freiburg, und ich sehe: Die Zeit, sich beispielsweise in Selbstverwaltungsgremien zu engagieren, wird knapp. Die Studenten sollen immer schneller und immer besser werden und außerdem Erfahrung in der Praxis sammeln, um einen perfekten Lebenslauf zu präsentieren. Wie sollen sie da noch lernen, was es heißt, politische Verantwortung zu übernehmen? Ein Grund für die internationale Finanzkrise liegt nach meiner Überzeugung darin, dass teilweise Personen agieren, denen das Gefühl für Verantwortung, für Gemeinwohl, für Politik abhanden gekommen ist.



Abendblatt:

Fehlt nur Zeit oder fehlen auch Vorbilder?

Voßkuhle:

Es gibt schon Personen, die die politische Fantasie beflügeln. Denken Sie an den neuen amerikanischen Präsidenten. Auch in Deutschland finden sich junge, leistungsfähige Politiker. Was fehlt, ist die Kultur, sich mit politischen Dingen zu befassen, und das hat viel mit Zeit zu tun. Wir sollten nicht der Illusion verfallen, indem wir alles schneller machen, wird alles besser.



Abendblatt:

Tun wir das?

Voßkuhle:

Ich habe den Eindruck, dass wir mitunter einem Schnelligkeitswahn erliegen: im Kindergarten schon die erste Fremdsprache lernen, Gymnasium in acht Jahren, Bachelor-Studium in sechs Semestern und dann mit Anfang 20 eine anspruchsvolle berufliche Position einnehmen. Wann soll hier noch ein Charakter reifen und sich festigen? Wie soll ein junger Mensch hier eine eigene nachhaltige Vorstellung von einem guten Leben entwickeln, das auch darin besteht, sich für Gemeinwohlbelange einzusetzen? Auch ansonsten bestimmt aus meiner Sicht zu häufig die kurzfristige Perspektive unser Handeln. Schnelle Erfolge stellen sich aber nicht selten langfristig als Misserfolge dar. Die gegenwärtige Krise bietet die Chance, auch darüber neu nachzudenken. Wir sollten sie nutzen.



Abendblatt:

Sollten wir auch über eine Änderung des Wahlrechts nachdenken - etwa über eine Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre?

Voßkuhle:

Ich bin skeptisch, ob eine Verlängerung der Wahlperiode viel verändern würde. Es geht eher darum, jungen Leuten das Gefühl zu geben: Politik ist spannend, Politik ist wichtig. Und Politik ist nicht anrüchig. Diejenigen, die sich politisch engagieren, verdienen Respekt und Anerkennung.



Abendblatt:

Ist es förderlich, dass man erst mit 18 Jahren wählen darf?

Voßkuhle:

Über eine Senkung des Wahlalters könnte man durchaus nachdenken. Eine Wahlentscheidung kann man auch bereits mit 16 Jahren treffen.



Abendblatt:

Das Bundesverfassungsgericht hat das Wahlrecht in Teilen für verfassungswidrig erklärt und eine Änderung bis 2011 verlangt. Bundestagspräsident Lammert dringt darauf, dass die beanstandete Regelung der Überhangmandate noch vor der Bundestagswahl korrigiert wird. Hat er Ihre Unterstützung?

Voßkuhle:

Wir sehen, dass eine Korrektur bei den Überhangmandaten schwierig ist. Daher haben wir dem Gesetzgeber eine längere Frist eingeräumt. Gleichwohl wären wir selbstverständlich dankbar, wenn die Bundestagswahl auf der Grundlage eines verfassungsgemäßen Wahlrechts stattfinden würde.



Abendblatt:

Sie haben sich dafür ausgesprochen, die Verfassungsordnung "anzureichern durch plebiszitäre Elemente". Was schwebt Ihnen vor?

Voßkuhle:

Ich halte unser parlamentarisches System grundsätzlich für sehr leistungsfähig. Direkte Demokratie ist nicht unbedingt die bessere Demokratie. Gleichwohl ist es überlegenswert, in einigen Bereichen stärker mit Volksentscheiden zu arbeiten. Im Rahmen der Wiedervereinigung beispielsweise hätte sich ein Plebiszit über die Frage angeboten, ob wir uns gemeinsam eine neue Verfassung geben sollen. Der Bürger wird manchmal etwas misstrauisch, wenn er von Richtungsentscheidungen ferngehalten wird.



Abendblatt:

Sehen Sie weitere solcher Richtungsentscheidungen?

Voßkuhle:

Ich kann zum Beispiel verstehen, dass die Bürger bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union mitreden wollen. Hier könnte man in der Zukunft ebenfalls über eine Volksabstimmung bei zentralen Reformschritten nachdenken. Das würde die Identifikation mit der europäischen Idee stärken.



Abendblatt:

Der Vertrag von Lissabon ist ein solcher Reformschritt. Ob das Vertragswerk jemals in Kraft tritt, hängt auch vom Bundesverfassungsgericht ab. Wann entscheiden Sie über die anhängigen Klagen?

Voßkuhle:

Wahrscheinlich im Juni, jedenfalls noch vor der Sommerpause.



Abendblatt:

Professor Voßkuhle, die Bundesrepublik Deutschland ist als demokratischer Rechtsstaat gegründet worden. War die DDR, die ebenfalls 1949 entstand, ein Unrechtsstaat?

Voßkuhle:

Ja, die DDR ist ein Unrechtsstaat gewesen.



Abendblatt:

Politiker der Linkspartei und auch der SPD tun sich eher schwer mit dieser Feststellung.

Voßkuhle:

Ich habe Verständnis für jeden, der persönlich auch gute Erinnerungen an sein Leben in der ehemaligen DDR hat. Wer sagt, dass die DDR ein Unrechtsstaat ist, bestreitet ja nicht, dass die Menschen dort auch schöne Momente erleben konnten. Man sollte aber keine Geschichtsklitterung begehen.



Abendblatt:

SPD-Chef Müntefering findet, dass man die Linkspartei nicht dauerhaft an ihrer DDR-Vergangenheit messen darf. Würden Sie das auch so sagen?

Voßkuhle:

Jede Partei hat eine Herkunft, mit der sie sich auseinandersetzen muss. Das schließt aber nicht aus, dass sie sich irgendwann von dieser Vergangenheit lösen kann. Schauen Sie sich die Anfänge der Grünen an: Als man den ersten Minister mit Turnschuhen vereidigte, waren viele Bürger irritiert. Als derselbe Politiker dann Außenminister wurde, war das nicht mehr so wichtig. Man muss die Entwicklung genau beobachten.



Abendblatt:

Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik ist die soziale Marktwirtschaft. Um der Finanz- und Wirtschaftskrise entgegenzutreten, greift die Bundesregierung zu Maßnahmen, die mit Marktwirtschaft wenig zu tun haben. Gerät unsere Ordnung ins Wanken?

Voßkuhle:

Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral. Wir haben ein breites Spektrum an Möglichkeiten, auf die Krise zu reagieren - auch solche, die nicht der reinen marktwirtschaftlichen Lehre entsprechen.



Abendblatt:

Ist die Enteignung von Bank-Aktionären mit dem Grundgesetz vereinbar?

Voßkuhle:

Ich kann hier keine verfassungsrechtlichen Gutachten abgeben. Festzuhalten ist aber, dass Artikel 14 des Grundgesetzes ausdrücklich von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums spricht und dort auch die Möglichkeit der Enteignung vorgesehen ist.



Abendblatt:

Zur Stabilisierung des Wirtschafts- und Finanzsystems verschuldet sich Deutschland in unvorstellbarem Ausmaß. Ist die Regierung dabei, die Krise auf Kosten künftiger Generationen zu bekämpfen?

Voßkuhle:

Das ist eine Frage, die uns alle berührt. Wenn die Wirtschaft wieder anspringt und das Geld zurückgezahlt werden kann, hat die Regierung alles richtig gemacht. Wenn die Entwicklung weiter nach unten geht, ist dieses Geld verbrannt worden. Die in diesem Zusammenhang zu treffenden Entscheidungen sind äußerst schwierig. Wir müssen hier der Einschätzung unserer politischen Entscheidungsträger zunächst einmal vertrauen.



Abendblatt:

Union und SPD verweisen gerne auf die Schuldenbremse, auf die sich Bund und Länder im Rahmen der zweiten Föderalismusreform verständigt haben. Ein taugliches Instrument?

Voßkuhle:

Die neue Schuldenbremse geht nicht sehr weit über das hinaus, was wir schon jetzt im Grundgesetz an Begrenzungen für neue Schulden vorfinden. In Ausnahmesituationen können auch weiterhin Schulden gemacht werden. Was die Föderalismuskommission vereinbart hat, ist aber ein wichtiges politisches Signal.



Abendblatt:

Wie sähe eine wirkungsvolle Schuldenbremse aus?

Voßkuhle:

Verfassungsrechtlich ist eine solche Schuldenbremse letztlich schwer festzuzurren. Man müsste stärker auf die Politik einwirken, Ausgaben zu reduzieren.



Abendblatt:

In der Krise?

Voßkuhle:

Wir sind momentan in einer existenziellen Situation, die offensichtlich besondere Maßnahmen verlangt. Wir werden aber nicht mehr lange weitermachen können wie in den letzten Wochen und Monaten. Wir müssen die staatlichen Ausgaben wieder auf ein vernünftiges Maß zurückführen.



Abendblatt:

Wozu raten Sie?

Voßkuhle:

Die Politik braucht keine Ratschläge vonseiten des Bundesverfassungsgerichts. Ich persönlich glaube, dass man nicht zu überschwänglich werden darf mit dem Verteilen von Geld. Wir werden diese Krise nicht überleben ohne harte Einschnitte. Darauf müssen wir uns einstellen.



Abendblatt:

Was bedeutet das für den Sozialstaat?

Voßkuhle:

Der Sozialstaat ist in besonderer Weise gefordert. Wenn es allen schlechter geht, trifft das jene am unteren Ende der Skala besonders hart.



Abendblatt:

Politiker fordern bereits eine Aufstockung von Hartz IV, wollen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern. Ist das geboten?

Voßkuhle:

Das ist eine politische Entscheidung. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ergibt sich freilich der Auftrag, den Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Und wir sollten dabei nicht vergessen: Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geht auch darauf zurück, dass wir den Sozialstaatsauftrag immer ernst genommen haben.