Interview: Ellis Huber, langjähriger Chef der Berliner Ärztekammer, über die Fehler im Gesundheitswesen

Ärzteprotest, Milliardenlöcher, Beitragserhöhungen - die Probleme im Gesundheitswesen sind kaum noch zu überblicken. Dr. Ellis Huber, Chef der Hamburger Betriebskrankenkasse Securvita und frühere Vorstand der Berliner Ärztekammer, skizziert seine Vorstellung von einem besseren Gesundheitssystem und geht mit Ärztelobbys, Krankenkassenfunktionären sowie der Politik hart ins Gericht.

ABENDBLATT: Herr Huber, die Ärzte wollen aus Protest gegen die Politik der Regierung nur noch Dienst nach Vorschrift machen. Was halten Sie davon?

ELLIS HUBER: Nichts. Denn der Auftrag der Kassenärzte ist, eine möglichst preiswerte und qualitativ hochwertige medizinische Versorgung für alle Menschen herzustellen. Nicht aber, allein ihren finanziellen Interessen nachzueifern. Was wir derzeit erleben, ist eine Funktionärselite ohne Verantwortungsgefühl.

ABENDBLATT: Was ist denn aus Ihrer Sicht das Ziel der Aktion?

HUBER: Die Ärzte werden auf die Barrikaden getrieben, um noch mehr Geld zu erkämpfen. Man vermeidet es damit, eine längst überfällige, sinnvolle Organisation der ambulanten Versorgung herzustellen. Das jetzige Honorarsystem belohnt nicht den guten Arzt, sondern den gewissenlosen Ausnutzer.

ABENDBLATT: Wie meinen Sie das?

HUBER: In diesem System wird die Entscheidung des Arztes verknüpft mit Honorarflüssen zu Gunsten dieses Entscheiders - das kann man nur als korrumpierend bezeichnen. Dafür ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung verantwortlich. Hinzu kommt, dass die Gesamtausgaben im Gesundheitssystem über die Verordnung der niedergelassenen Ärzte gesteuert werden. Der Kugelschreiber des Arztes ist also sein mächtigstes Steuerungsinstrument.

ABENDBLATT: Sie waren früher selbst hoher Ärztefunktionär . . .

HUBER: . . . und ich habe damals schon auf diese Versäumnisse hingewiesen. Dem guten Arzt schadet dieses System genauso wie dem Patienten. Diese Mediziner wären über ein stabiles Zeithonorar glücklich, das ihren hohen Einsatz abgelten würde. Dann müssten sie nicht mehr ihre Abrechnungen optimieren, um zu überleben. Der gewissenlose Profiteur ist immer noch sehr gut begütert, während der einfühlsame, sozial verantwortliche Arzt kaum über die Runden kommt.

ABENDBLATT: Der gute Doktor ist also arm dran. Warum begehrt er dann nicht dagegen auf?

HUBER: Weil wir ein System gegenseitig irrationaler Feindbilder gezüchtet haben. Krankenkassenfunktionäre halten Ärzte für kriminelle Ausnutzer des Systems, die Ärzte beschimpfen sie dagegen als ignorante Bürokraten. Ich sehe auch bei vielen Kassenfunktionären nicht viel mehr soziales Verantwortungsgefühl. Auch denen geht es nur ums Geld.

ABENDBLATT: Wie muss man denn dann ein solches System nennen?

HUBER: Es ist durch und durch krank. Das Verdienen an der Krankheit steht im Vordergrund. Der operierte Gesunde ist heute das lukrativste Objekt.

ABENDBLATT: Wer ist dafür verantwortlich?

HUBER: Es gibt ein generelles Führungsversagen von Ärzte- und Kassenfunktionären sowie der Politik. Alle wissen, dass die notwendige Systemreform nur gemeinsam glücken kann. Dennoch wollen alle nur ihre gruppenegoistischen Interessen optimieren. Das System funktioniert aber nur, wenn sich alle als Teil des Ganzen betrachten. Heute ist es aber so, dass am lukrativsten erscheint, was dem Ganzen schadet. Die Lobbygruppen innerhalb des Gesundheitssystems verhalten sich wie Krebsgeschwüre, die das Ganze zersetzen.

ABENDBLATT: Wie kommen wir aus dieser Misere heraus?

HUBER: Nötig ist ein für die Versicherten durchschaubares Versorgungsgefüge. Die meisten Mittel werden aber für Dinge eingesetzt, die mit Heilen und Helfen nichts zu tun haben. 30 bis 40 Prozent der Kassenmittel fließen in Verwaltungs- und Verhandlungsprozesse. Das ist schmarotzender Mittelverbrauch, der nichts bringt. Auf der anderen Seite erhalten aber zum Beispiel Pflegekräfte immer weniger. Das kann nicht richtig sein.

ABENDBLATT: Wie stellen Sie sich ein besseres System vor?

HUBER: Wir brauchen eine soziale Pflichtversicherung für alle, die eine Regelversorgung garantiert. Wer mehr Leistungen will, muss sich diese individuell zusätzlich sichern. Patienten sollten zudem nicht mehr staatlich bevormundet werden, sondern Wahl- und Selbstbestimmungsrechte erhalten. Zwischen Kassen und Ärzten sowie Krankenhäusern muss es freie Vertragsmöglichkeiten geben. Ein solches freies, wettbewerbsorientiertes System richtet sich dann nicht nur an der Geldvermehrung aus, sondern verbindet den Kapitalismus mit sozialer Integrationskraft.

ABENDBLATT: Die Politik müsste dieses Modell ja umsetzen. Trauen Sie ihr das derzeit zu?

HUBER: Nein. Die Politik ist zu zögerlich, zu schlafmützig. Gesundheitsministerin Schmidt hat auch zu wenig Mut für solche Projekte. Sie kungelt lieber weiter mit den Mächtigen der Lobbygruppen.

Interview: GÜNTHER HÖRBST