Der zweite Mann im Staat warnt angesichts der Wirtschaftskrise davor, Steuersenkungen zu versprechen. Im Abendblatt-Interview fordert der CDU-Politiker eine Wahlrechtsänderung noch vor der Bundestagswahl.

Hamburg/Berlin. Hamburger Abendblatt:

Herr Präsident, die Bundesregierung bereitet die Verstaatlichung von Banken und die Enteignung ihrer Aktionäre vor. Kehrt 20 Jahre nach dem Mauerfall der Sozialismus nach Deutschland zurück?

Norbert Lammert:

Ganz sicher nicht. Wir sind in Deutschland und anderen Ländern mit einer Krise der Finanzmärkte und der gesamten Volkswirtschaften konfrontiert, die in ihrer Dimension alle bisherigen Erfahrungen sprengt. Ihre Bewältigung erfordert auch Instrumente, die wir uns vor wenigen Monaten noch gar nicht hätten vorstellen können.



Abendblatt:

Werden wir am Ende dieser Krise noch die Marktwirtschaft haben, die wir kennen?

Lammert:

Es lässt sich nicht bestreiten, dass wir uns gegenwärtig von marktwirtschaftlichen Mechanismen entfernen. Gleichwohl sehe ich eine begründete Aussicht, dass am Ende dieser Notoperation das Konzept der sozialen Marktwirtschaft nicht nur in Deutschland stabilisiert ist. Zum ersten Mal könnte über die Grenzen unserer Volkswirtschaft hinaus ein verbindliches internationales Regelwerk entstehen.



Abendblatt:

Was bedeutet die Krise für den Wahlkampf im Superwahljahr 2009?

Lammert:

Die Wahlkämpfer haben eine besondere Verantwortung. Wir reden über Größenordnungen, die das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen schlicht überfordern. In dieser Situation wäre es hochgradig verantwortungslos, mit den Besorgnissen und Unsicherheiten der Wähler zu spielen. Der Wahlkampf muss so ruhig und nüchtern wie möglich vonstatten gehen - ohne Schwarzmalerei und ohne Verheißungen.



Abendblatt:

Wäre es seriös, Steuererleichterungen zu versprechen?

Lammert:

Nein. Ich sehe auch keinen, der dies täte. Die richtige Frage lautet, ob alle Reformbemühungen nach Stabilisierung der Lage wieder aufgenommen werden müssen. Man sollte den Einsatz für ein einfacheres und gerechteres Steuersystem nicht mit der leichtsinnigen Ansage verbinden, dass in einem überschaubaren Zeitraum substanzielle Steuersenkungen möglich wären.



Abendblatt:

Von der Krise könnten extremistische Parteien und Gruppierungen profitieren, warnt jetzt auch der Verfassungsschutz. Teilen Sie die Sorge?

Lammert:

Nein. Alle historischen Erfahrungen zeigen, dass es Risiken für die politische Stabilität eines Systems regelmäßig dann gibt, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse deutlich aus dem Ruder laufen. Gegenwärtig aber kann ich dies nicht erkennen. Jedenfalls haben wir heute national und international günstigere Rahmenbedingungen als in der Weltwirtschaftskrise der Weimarer Republik, ein Vergleich wäre unzulässig.



Abendblatt:

In Staaten wie Island, Bulgarien und Russland kommt es bereits zu Unruhen ...

Lammert:

Die von Ihnen genannten Länder würden allesamt ohne einen Augenblick zu zögern mit der deutschen Problemlage tauschen wollen - sowohl mit Blick auf die Wirtschaftsdaten als auch auf die politischen Institutionen.



Abendblatt:

Deutschland als Fels in der Brandung?

Lammert:

Jedenfalls als stabiler und verlässlicher Partner.



Abendblatt:

Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm sieht Anzeichen dafür, dass die rechtsextremistische NPD vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise in weitere Landtage einziehen könnte. Sollten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung ein neues Verbotsverfahren anstrengen?

Lammert:

Mit Verboten politischer Parteien lassen sich extremistische Einstellungen nie beseitigen. Man bekämpft eher das Symptom als das eigentliche Problem. Man schafft die zusätzliche Schwierigkeit, demokratisch unzuverlässige Konkurrenten mit der Gloriole politischer Märtyrer auszustatten und auf diese Weise ihre Kundschaft eher zu vergrößern. Im Übrigen machen wir regelmäßig die Erfahrung, dass sich extremistische Organisationen nach einem Verbot innerhalb kurzer Zeit unter anderen Namen neu gründen.



Abendblatt:

Extremismus wird hierzulande meist mit Rechtsextremismus gleichgesetzt. Wird der Kampf gegen Linksextremismus vernachlässigt?

Lammert:

In Deutschland gibt es aus guten, historischen Gründen eine deutlicher ausgeprägte Sensibilität gegenüber rechtsextremistischen Verirrungen. Im Vergleich dazu findet Linksextremismus eher wenig Beachtung.



Abendblatt:

Wäre eine Fortsetzung der Großen Koalition nach der Bundestagswahl gut für unsere Demokratie?

Lammert:

Ich kenne in CDU, CSU und SPD buchstäblich niemanden in Führungsämtern, der sich eine Fortsetzung dieser Koalition wünscht ...



Abendblatt:

SPD-Fraktionschef Peter Struck hatte in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt ganz so geklungen ...

Lammert:

Wünschenswert ist eine klare Rollenverteilung zwischen einer großen politischen Gruppierung in der Regierungsverantwortung und einer anderen großen politischen Gruppierung in der Opposition. CDU, CSU und SPD werden im Wahlkampf nicht für eine Fortsetzung der Großen Koalition werben. Aber wie schließlich die Mehrheitsverhältnisse sind, das wird von den Wählern bestimmt.



Abendblatt:

Wie stark darf der Wunsch nach einem Ende der Großen Koalition die Politik der letzten Monate bestimmen?

Lammert:

Je näher der Wahltermin rückt, desto größer wird das Bedürfnis aller Parteien, das eigene Profil zu schärfen. Was sich derzeit in der Großen Koalition abspielt, ist keine neue Erfahrung. Das Herbeiführen von politischen Lösungen erleichtert es nicht.



Abendblatt:

Die Union und inzwischen auch die SPD sind entschlossen, die Bundestagswahl mit einem verfassungswidrigen Wahlrecht zu bestreiten. Verspielen Sie damit nicht weiteres Vertrauen in unsere demokratische Ordnung?

Lammert:

Das Bundesverfassungsgericht hat eine einzelne Regelung im Wahlrecht, die im Zusammenhang mit den Überhangmandaten steht, als nicht haltbar identifiziert. Und es hat dem Gesetzgeber bis 2011 Zeit gegeben, eine Änderung herbeizuführen. Gleichwohl bin ich der Meinung: Es ist unbedingt erwünscht und bei gutem Willen auch möglich, diese Regelung in unserem Wahlrecht so rechtzeitig zu korrigieren, dass sie schon bei den nächsten Bundestagswahlen Anwendung finden könnte.



Abendblatt:

Wie stehen die Chancen?

Lammert:

Es entspricht einer guten Tradition unseres parlamentarischen Systems, Wahlrechtsänderungen einvernehmlich vorzunehmen. Deswegen werbe ich für eine Verständigung unter allen politischen Kräften, eine solche Korrektur der beanstandeten Regelung zu den Überhangmandaten noch für die nächste Bundestagswahl möglich zu machen.



Abendblatt:

Und wenn es nicht gelingt?

Lammert:

Es wäre mehr als ein Schönheitsfehler, wenn auch nach der nächsten Bundestagswahl einzelne Überhangmandate unter genau den beanstandeten Bedingungen erneut zustande kämen.