Hamburg. Wer den Folterknechten von Diktaturen als Informant hilft, muss damit rechnen, dass ihm eines Tages die Quittung vorgelegt wird - ausgestellt von eben diesen Folterknechten. Denn die sind nicht nur perfekt im Zerstören von Menschenleben, die führen auch perfekte Akten. Über mich gibt es zwei solcher Akten. Eine wurde vom sowjetischen Geheimdienst angelegt, der mich Anfang der 50er wegen antikommunistischer Tätigkeit zu 25 Jahren verurteilen ließ - sie liegt in Moskau. Die zweite Akte befindet sich in Berlin, geschrieben von Offizieren des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Die ließen mich beobachten, als ich Jahrzehnte später nach Potsdam reiste, um das Grab meiner Eltern zu besuchen. Sie postierten Tag und Nacht einen mit zwei Stasi-Mitarbeitern besetzten Funkwagen vor dem Haus, in dem ich wohnte. Und die begleiteten mich auf Schritt und Tritt. Du gehst über einen Friedhof, bleibst manchmal stehen, weil da einer liegt, den du kennst, und später findest du das alles haargenau beschrieben in deiner Akte. Du findest dort sogar noch eine Skizze, auf der jedes Grab aufgezeichnet ist, vor dem du stehen geblieben bist. Und du findest Notizen darüber, wie sie unter den Blumen, die du auf dem Grab der Eltern gepflanzt hast, einen toten Briefkasten gesucht hatten. Oder du hast eine Postkarte an einen Freund in Hamburg geschickt. In der Akte schlägt sich das so nieder: ". . . hat etwas in den Briefkasten Leipziger Straße geworfen. Wie verhalten?" Antwort der Leitstelle: "Sofort leeren, Postsendung finden." Die wurde dann auf Geheimtinte oder einen Geheimcode untersucht, und natürlich wurden Recherchen über den Freund in Hamburg eingeleitet. Nichts ließen sie aus. Sie verwickelten mich beim Grenzübergang in Gespräche, sie überprüften das Lokal, in dem ich mit Frau und Kindern speiste, sie kontrollierten den Laden, in dem ich ein Buch kaufte, sie horchten Menschen aus, mit denen ich mich unterhalten hatte, sie hielten immer und immer wieder den Kilometerstand des Autos fest, ob ich nicht doch Fahrten unternommen haben könnte, die ihnen entgangen waren, sie setzten neben den hauptamtlichen Mitarbeitern noch informelle Mitarbeiter - IMs - auf mich an, sie untersuchten während unserer Abwesenheit die Wohnung meines Gastgebers, bauten dort "Wanzen" ein. Und später beschlagnahmten sie in einer gegenüberliegenden Wohnung sogar ein Zimmer, um noch besser beobachten zu können. "Schild und Schwert der Partei" - so nannte sich die Stasi. Darüber hatte sie die Akten vergessen, in denen alles aufgeschrieben wurde. Sehr zum Leidwesen derjenigen, die ihr dabei geholfen hatten. Nun, da ein neuer Aktenberg gesichtet wird, werden viele Helfershelfer bangen. Und manch anderer wird verzweifeln, wenn er entdeckt, dass der angebliche Freund ein Verräter war. Horst Schüler, von 1964-89 Abendblatt-Redakteur, saß jahrelang in Stalins berüchtigtem Straflager Workuta.