Sonntag stimmt Nordrhein-Westfalen über einen neuen Landtag ab. Finanzen sind das Megathema. Beobachtungen im hoch verschuldeten Ruhrgebiet

Düsseldorf. Als Hannelore Kraft (SPD) nach Gelsenkirchen kommt, schlägt ihr gleich die Rauheit der Region entgegen. Sie klagt in ihrer Rede über die Armut und Verschuldung der Städte. Sie will Hoffnung wecken vor der Landtagswahl an diesem Sonntag. "Ich würde gern dafür sorgen, dass es hier demnächst so aussieht wie in gut situierten Städten mit viel Geld", sagt die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin auf dem Marktplatz. Ein Gelsenkirchener ruft dazwischen: "Das wollen wir doch gar nicht."

So mancher hier pflegt lieber das Dasein des Underdogs und erträgt die kaputten Straßen, die verfallenden Häuser, das fehlende Geld. Man hat sich in der "Vergeblichkeitsfalle" eingerichtet, über die Städte und Kommunen klagen. Es regt sich jedoch zunehmend Unmut. Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD) gehört zu jenen Stadtoberhäuptern, die sich über den Solidarpakt für die neuen Bundesländer beschwert und Finanzhilfen für die Kommunen gefordert haben. Gelsenkirchen habe Schulden von fast 900 Millionen Euro, dennoch habe die Stadt seit 1991 auf fast insgesamt 300 Millionen Euro inklusive Zinsen verzichten müssen - wegen des Solidarpakts.

Die Situation in den Kommunen unterfüttert das Megathema des Wahlkampfs: solide Finanzen. Die Spitzenkandidaten von CDU und FDP, Norbert Röttgen und Christian Lindner, versuchen Rot-Grün als Schuldenmacher vor sich her zu treiben. Lindner klagt immer wieder über den "Wettbewerb der sozialsten Rhetorik". In dieser Disziplin liegt die SPD-Spitzenkandidatin Kraft uneinholbar vorn. Sie will "kein Kind zurücklassen", sie will eine "Kümmerin" sein.

Der Ballungsraum an der Ruhr mit rund fünf Millionen Einwohnern ist SPD-Hochburg. Münsterland, Sauerland und der Niederrhein sind politisch nachtschwarz. Das Ruhrgebiet leuchtet glutrot wie früher die Feuer der Stahlhütten. Die Hütten verschwinden, die Mentalität ist noch da. Die grüne Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann, selbst aus Essen, lobt die Herzlichkeit und Direktheit der Einwohner, umschreibt die typische Haltung aber so: "Früher sagte man: Der Bergwerksdirektor wird's schon richten." So dachte man als Arbeiter auf der Zeche: Jemand da oben könne alles lösen. Es hat ja auch lange geholfen. Über Jahrzehnte flossen Subventionen, erst für die kriselnden Bergwerke, dann für Arbeitslose. Obendrein fließen weitere Milliarden, um die Schäden des Bergbaus unter Kontrolle zu halten. "Ewigkeitslasten" sind das, die "Ewigkeitskosten" produzieren. Der Boden war teilweise mehr als 25 Meter gesunken. Es blieben Tausende Schächte zurück, die teilweise nicht mehr aufzufinden sind. Allein in der Emscherregion arbeiten unablässig mehr als hundert Pumpen. Sie bewahren das Ruhrgebiet buchstäblich vor dem Untergang.

Die stete Gefahr passt zu einer Region, die mit Krisen und Kontrasten Schlagzeilen macht. Als Essen mit dem Ruhrgebiet "Kulturhauptstadt 2010" war, staunten die Besucher, wie grün die Region geworden ist. "Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden", hatte Willy Brandt 1961 gefordert. Gelsenkirchen leidet an einer Arbeitslosenquote von 14 Prozent, während es im Bund nur 7,2 Prozent sind. Aber Gelsenkirchen will sich nicht schlechtreden lassen. Die Stadt verweist darauf, wo man herkommt: 2005 lag die Arbeitslosenquote noch bei 25 Prozent. Das Ruhrgebiet kämpft mit einem Wahrnehmungsproblem.

Gleich neben Dortmund gibt es eine weitere SPD-Hochburg, den Kreis Unna. Von seinen zehn Städten wird nur Schwerte von der CDU regiert. Heinrich Böckelühr, 1999 erstmals gewählt, scherzt, Schwerte sei die "schwarze Perle" im Kreis. Es ist das einzige Mal, dass er sich parteipolitisch abgrenzt: "Bei diesen gewaltigen Problemen spielt Parteipolitik keine Rolle mehr. Es ist frustrierend, dass wir immer mehr in die Vergeblichkeitsfalle geraten. Man fühlt sich wie ein Hamster im Laufrad." Längst kooperiert der 50-Jährige mit den SPD-Amtskollegen. Sie verwalten gemeinsam die Not. Schwerte hat rund 70 Millionen Euro Kreditschulden und musste wegen Überschuldungsgefahr mit 33 weiteren Kommunen dem sogenannten "Stärkungspakt"-Programm des Landes NRW beitreten. Bis 2016 muss die Stadt (rund 48 000 Einwohner) den Haushaltsausgleich schaffen und dafür 25,5 Millionen Euro einsparen. Im Gegenzug gibt das Land jährlich 1,5 Millionen Euro. Böckelühr hat die Verwaltung gestrafft. In den 80er-Jahren gab es 850 Bedienstete, nun sind es 490.

Die Parteien haben im Landtagswahlkampf Hilfen für die Kommunen betont. Bundeskanzlerin Angela Merkel und CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen werden heute bei einer Kundgebung in Gelsenkirchen-Buer auf die Probleme im Ruhrgebiet eingehen. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel ist in Marl gewesen und warnt noch lauter vor dem "dramatischen Verfall" in den Städten. "Wenn ich der SPD für ihr Wahlprogramm 2013 einen Rat geben darf, dann ist es die Verbesserung der kommunalen Finanzkraft, sodass die Städte und Gemeinden ihre eigentlichen Aufgaben endlich wieder wahrnehmen können. Das hält unsere gesamte Gesellschaft zusammen, weil Menschen eine Heimat brauchen", sagt Gabriel der "Welt".

Den Kommunen würde es "helfen, wenn sie nicht mehr an der Umlage zur Entschuldung des Fonds Deutsche Einheit beteiligt würden. Sie finanzieren einen Teil dieses Fonds." Es sei ein Irrtum, dass dieses Geld im Osten Deutschlands investiert werde.

Bei den Grünen propagiert man einen "Altschuldentilgungsfonds". Zu dem Zweck ist Sylvia Löhrmann, die grüne Spitzenkandidatin, in ein stillgelegtes Hallenbad in Oberhausen gefahren. Die Stadt weist eine bundesweite Rekordverschuldung von zwei Milliarden Euro aus. Löhrmann bittet im Nichtschwimmer-Becken zur Pressekonferenz. "Finanziellen Spielraum zur politischen Gestaltung vor Ort gibt es faktisch nicht mehr", sagt Löhrmann. Nur acht der 396 NRW-Kommunen gelinge ein ausgeglichener Etat ohne Griff auf Rücklagen.

Dann muss Löhrmann weiter nach Hattingen. Ihr Bus fährt über die A 40 und gerät, natürlich, in einen Stau. Die infarktbelastete Verkehrsader wird auch als "Sozialäquator" bezeichnet, der den kriselnden Norden und den weniger kriselnden Süden des Ruhrgebiets trennt. Löhrmann erinnert sich noch, dass man die Wäsche früher nicht draußen trocknen konnte, weil sie schwarz von Ruß und Abgasen wurde. Ihr Vater entfloh mit der Familie dem Dreck. Zwei Stunden pendelte Löhrmann zum Mädchen-Gymnasium in Essen hin und zwei Stunden zurück. Die Stadt Dortmund erzählt den Strukturwandel anders: Man hat eine Industriebrache im Stadtteil Hörde geflutet und "Phoenixsee" genannt. Dort entsteht ein Edelviertel. "Schnuppern Sie frische Dortmunder Seeluft" steht auf einer Tafel. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein.

Videos und Hintergründe zum Wahlkampf unter www.abendblatt.de/nrw