Die Wahlbeteiligung in Bremen hat einen Negativrekord aufgestellt. Die Beteiligung war sogar noch geringer als in Hamburg.

Hamburg. Der Ausgang der Wahl zur Bremer Bürgerschaft war abzusehen. Laut der jüngsten vorläufigen Hochrechnung von gestern Nachmittag liegt die SPD als stärkste Partei bei 38,6 Prozent. Die Grünen erreichen 22,6 Prozent und hängen damit die CDU mit ihren 20,3 Prozent ab. Die Linke erzielt 5,7 Prozent, die FD nur 2,4. Das amtliche Endergebnis wird heute erwartet.

Weniger vorhersehbar war dagegen die schlechte Wahlbeteiligung, die nur 56,3 Prozent betrug - ein neuer Negativrekord bei Bremer Wahlen, der die ebenfalls historisch geringe Beteiligung bei den Wahlen in Hamburg in diesem Jahr noch um einen knappen Prozentpunkt unterbietet. Wahlforscher und Parteien sind alarmiert und warnen vor steigender Politikverdrossenheit.

Nach Ansicht von Matthias Jung, dem Leiter der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, sind zahlreiche Bremer und Bremerhavener nicht an die Urne gegangen, weil der Sieg von Rot-Grün absehbar gewesen sei. "Eine Reihe von Bremer wählten nicht, da sie mit der Arbeit der Koalition zufrieden waren, und sie meinten, dass auch ohne sie die gewünschte Koalition gewinnen wird", sagte Jung dem Abendblatt. In Bremen gebe es aber noch einen weiteren Grund für die Wähler-Flaute: "Das komplizierte Wahlsystem hat Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung. Manche Wähler werden davon eher abgeschreckt." Eine Deutung, der die Initiative Mehr Demokratie widerspricht. Sie hatte den Anstoß zum neuen Wahlrecht gegeben, dank dessen erstmals bis zu fünf Stimmen auf Parteien und Kandidaten verteilt werden konnten.

Nach Ansicht von Volker Beck, dem parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, hätten die Bremer das Gefühl gehabt, dass die Regierung gut gearbeitet und sich die Opposition inhaltlich zu wenig von der Regierung abgesetzt habe.

Doch Beck und Jung sind sich einig darin, dass die sinkende Wahlbeteiligung kein regionales Phänomen ist. "Wir müssen uns deswegen wirklich darum kümmern, dass die Leute wieder stärker zur Wahl gehen", sagte Beck dem Abendblatt. Michael Hartmann, Sprecher der Arbeitsgruppe Wahlprüfung der SPD-Bundestagsfraktion, warnte gegenüber dem Abendblatt: "Die sinkende Beteiligung der Bürger an Wahlen ist eine mehr als besorgniserregende Entwicklung, die im schlimmsten Fall zu einer Erosion demokratischer Legitimation führen kann." Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung nennt ein drastisches Gegenmittel: "Eine Wahlpflicht hebt die Wahlbeteiligung, das sieht man an Ländern wie Belgien oder Australien." Mögliche Sanktionen gegen Nichtwähler reichten über Geld- bis hin zu Haftstrafen oder dem Verlust des Wahlrechts. Für die nötige Verfassungsänderung werde sich aber wohl keine Bundestagsmehrheit finden lassen, glaubt Schäfer.

Tatsächlich stößt die Idee einer drastischen Wahlrechtsreform auf wenig Gegenliebe. So etwas sei "derzeit kein Thema", heißt es unisono bei den Landesverbänden von CDU und SPD an der Weser. "Ich bin auch absolut gegen eine Wahlpflicht", betont Grünen-Politiker Beck. "Zur freiheitlichen Bundesrepublik passt das nicht."

Doch wie sich die stetig sinkende Kurve der Wahlbeteiligung umkehren lässt, darüber herrscht Ratlosigkeit. Während Beck Medien und Kollegen in der Pflicht sieht, Politik besser zu vermitteln, fordert SPD-Mann Hartmann, die Politik müsse sich von "Schlagabtausch-Ritualen" verabschieden und mehr Bürgerbeteiligung zulassen.

Bei den Bürgerschaftswahlen hat die Bremer Landespolitik nun versucht, durch eine Herabsetzung des Wahlmindestalters vermehrt junge Menschen für die Politik zu begeistern - laut Wahlforscher Schäfer ein riskanter Versuch. "Minderjährige wählen zu lassen ist nicht die Lösung des Problems", sagte Schäfer. Sie hätten häufig die geringste Wahlbeteiligung aller Altersklassen. "Darin liegt sogar eine Gefahr: Die Jugendlichen könnten sich bereits früh daran gewöhnen, nicht zur Wahl zugehen, und dadurch auch später Nichtwähler werden."