EU-Kommissionspräsident Barroso “hofft“ auf Entscheidungen, wenn EU-Energiekommissar Oettinger am Donnerstag mit Experten berät.

Straßburg/Brüssel. Rückenwind für EU-Energiekommissar Günther Oettinger: EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat vor einem wichtigen Treffen an diesem Donnerstag Oettingers Forderung nach strengen AKW-Stresstests bekräftigt. "Die Kommission dringt darauf, dass Länder, die sich für Atomstrom entschieden haben, die höchsten Sicherheitsstandards haben“, sagte Barroso am Mittwoch in Straßburg. Er sprach sich für umfangreiche Stresstests für die 143 Atommeiler in der EU aus. Beinhalten sollen diese Tests "ein breites Spektrum an möglichen Szenarien, natürliche und menschengemachte“.

Barroso hoffe auf eine Entscheidung am Donnerstag. Dann geht in Brüssel der Streit um die Stresstests in die nächste Runde. Oettinger trifft sich mit Vertretern der Europäischen Gruppe für nukleare Sicherheit und Abfallentsorgung (ENSREG). In diesem Gremium sitzen Vertreter der 27 Mitgliedsstaaten. Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten bei ihrem Gipfel Ende März die Kommission und das Gremium damit beauftragt, über Kriterien für Stresstests zu entscheiden. Fristen für eine Einigung gibt es allerdings nicht. Die umstrittenen Tests sollen geltende Sicherheitsvorkehrungen ergänzen.

Oettingers Sprecherin kündigte am Mittwoch an, der Kommissar werde bei den Gesprächen einen Vorschlag auf den Tisch legen, der nicht nur die Standfestigkeit von Atommeilern bei Naturkatastrophen, sondern auch bei Flugzeugabstürzen, Terroranschlägen und Bedienfehlern auf den Prüfstand stellt – den "menschlichen Faktoren“. Oettinger hatte sich zuletzt gegen zu lasche Untersuchungen gewehrt und war damit auf Kritik gestoßen. Vor allem Frankreich und Großbritannien wollen ihre AKW lediglich auf die Gefahr von Naturkatastrophen überprüfen.

Kompromissbereitschaft ließ Oettinger über seine Sprecherin in puncto Transparenz signalisieren. Zwar hatte er angekündigt, Testergebnisse veröffentlichen zu wollen. Aber gerade wenn es um Terroranschläge geht, dürften sensible Informationen nicht an die Öffentlichkeit gelangen, sagte die Sprecherin.

Öffentlichkeit sei aber ausschlaggebend bei den Stresstests. Denn nur damit kann Oettinger den Betreibern maroder Kraftwerke Druck machen. Die Kommission kann keine Stresstests anordnen, sie sollen also freiwillig sein. Fällt ein Meiler bei dem Test durch, hat die EU keine Handhabe, ihn abzuschalten. Das können die Mitgliedsstaaten nur selbst anordnen. Für die Kosten einer Schließung oder eines Umbaus sieht die Kommission die Verantwortung bei den Betreibern.

Der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange mahnte: "Wir brauchen Stresstests und keine Relaxtests für AKWs.“ Die Vorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, lobte Oettinger und sagte, "Oettinger darf jetzt nicht Angst vor der eigenen Courage bekommen. Er muss sich gegen die Mitgliedsstaaten durchsetzen, die sich in ihre Atomprogramme nicht reinreden lassen wollen.“

Lesen Sie auch den Abendblatt-Bericht von Roman Heflik und Christian Unger:

Stress um die Tests von Atommeilern in der EU

In Deutschland formiert sich ein breites politisches Bündnis für strenge europaweite Stresstests von Atomkraftwerken. Sicherheitsexperten sowie Politiker von CDU und SPD dringen darauf, dass alle Meiler in der EU nicht nur darauf geprüft werden, ob sie Naturkatastrophen standhalten können, sondern auch, ob sie gegen Angriffe und Bedrohungen aus der Luft ausreichend geschützt sind.

Bernhard Witthaut, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), sagte dem Abendblatt, die europaweiten Stresstests seien aus sicherheitstechnischen Aspekten sehr wichtig. Man benötige europaweite Standards für den Schutz der Kraftwerke beispielsweise vor Terrorangriffen mit Flugzeugen, sagte der GdP-Chef. "Noch immer sind nicht alle deutschen Meiler sicher vor Flugzeugabstürzen. Das können wir als Polizei nicht verantworten." Gefahr droht den Reaktoren Witthaut zufolge aber nicht nur aus der Luft. "Auch mögliche terroristische Angriffe auf die Computertechnik in Atomkraftwerken machen uns große Sorgen." Es wäre fatal, wenn es Kriminellen mit Cyber-Angriffen gelänge, in das Sicherheitssystem der Kraftwerke vorzudringen und womöglich so einen Super-GAU auszulösen. "Auch dafür sind europaweite Sicherheitsstandard dringend notwendig", sagte Witthaut.

Morgen wollen die nationalen Aufsichtsbehörden aller 27 EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission über die Ausgestaltung des geplanten europaweiten AKW-Stresstests beraten, auf die sich die Gemeinschaft nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima geeinigt hatte. Doch eine Einigung ist offen: EU-Energiekommissar Günther Oettinger betonte gestern Abend im EU-Parlament in Straßburg: "Stresstests light wird es mit meiner Unterschrift nicht geben." Bei den geplanten Tests müssten sowohl die möglichen Folgen von Umweltkatastrophen bewertet werden als auch die von menschlichem Versagen, Terrorangriffen oder Flugzeugabstürzen. Oettinger schloss ein Scheitern der Gespräche nicht aus.

Notwendig sei eine "Gesamtbewertung aller Risiken", sagte er. Er stellte sich damit gegen einen Vorschlag des Verbandes der westeuropäischen Aufsichtsbehörden, der etwaige Konsequenzen menschlichen Versagens aus den Tests ausklammern will. "Ich halte dies für ungenügend", sagte der deutsche EU-Kommissar.

Doch darüber herrscht Uneinigkeit: Die Kommission fordert einen umfassenden Ansatz. Dafür sprechen sich euch einige EU-Staaten aus - etwa Österreich, das auf Atomkraft verzichtet hat. Andere Länder, vor allem Frankreich und Großbritannien, wehren sich hingegen gegen umfangreiche Kriterien. In den beiden Ländern laufen die meisten Atommeiler in Europa. Einschätzungen von Fachleuten zufolge ist kaum eine Anlage gegen den Absturz einer Passagiermaschine gerüstet.

Tschechiens Energiebeauftragter stellte die Überprüfungen gestern grundsätzlich infrage. Eine Kontrolle der rund 140 Reaktoren in der EU sei zwar generell sinnvoll, sollte aber nicht einheitlich stattfinden, sagte der Sonderbeauftragte für Energiesicherheit, Vaclav Bartuska, gestern in Berlin. Dafür gebe es zu viele verschiedene Reaktortypen. Die Überprüfungen sollten deshalb in der Hand nationaler Aufsichtsbehörden liegen.

Auf deutscher Seite herrscht dagegen weitgehend Einigkeit, die Sicherheitschecks möglichst anspruchsvoll zu halten. "Die EU muss jetzt in der Frage der europaweiten Stresstests für Kernkraftwerke Einigkeit demonstrieren", sagte der SPD-Bundestagsfraktionsvize Ulrich Kelber dem Abendblatt: "Wo sonst, wenn nicht in der grenzüberschreitenden Frage der Nuklearsicherheit?" Nach Ansicht Kelbers muss Deutschland bei den Prüfverfahren für die Atommeiler selbst hohe Standards setzen und auch von den europäischen Nachbarn mit Nachdruck einfordern. Es müsse auch geprüft werden, ob Reaktoren gegen Flugzeugabstürze und Terrorangriffe ausreichend geschützt sind. "Wenn sie es nicht sind, müssen sie sofort vom Netz genommen werden. Darauf muss Deutschland mit höchster Priorität dringen und alle Verhandlungsmöglichkeiten ausschöpfen", forderte der SPD-Politiker.

Auch in der Unionsfraktion werden Forderungen nach scharfen Tests laut. Der Vorsitzender der Fraktionsarbeitsgruppe Wirtschaft und Technologie Joachim Pfeifer (CDU) sagte dem Abendblatt: "Unsere Anstrengungen müssen darin bestehen, europaweite Kriterien für die Stresstests zu erarbeiten, denn die Risiken der Kernkraft machen nicht an der Grenze halt." Auch die Folgen von Abstürzen und Terrorangriffen sollten berücksichtigt werden.

Mit Material von dpa