Berlin am Tag eins nach dem NRW-Wahldebakel: Bundesregierung will ihre Spielräume ausloten

Berlin. Angela Merkel machte vor der versammelten Hauptstadtpresse kurzen Prozess. Steuersenkungen seien "auf absehbare Zeit nicht vorstellbar". Mit diesen so knappen wie klaren Worten beerdigte die Kanzlerin am Tag eins nach dem Wahldebakel an Rhein und Ruhr eines der Prestigeprojekte der schwarz-gelben Bundesregierung. Auf die mokante Frage, ob das der Koalitionspartner denn auch schon wisse, antwortete Merkel, ja, sie habe mit dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle darüber gesprochen. Für 2011 und 2012 würden Steuersenkungen jedenfalls ausfallen. Damit war aus Sicht der Kanzlerin alles zu dem unerfreulichen Thema gesagt, das in den vergangenen Monaten zum Zankapfel der schwarz-gelben Koalition geworden war und am Ende dem glücklosen Jürgen Rüttgers von Berlin aus den Wahlkampf verhagelt hatte.

Und auch Westerwelle beugte sich gestern der Macht des Faktischen. Man müsse die veränderten Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zur Kenntnis nehmen, sagte der FDP-Vorsitzende. Das war allerdings die Untertreibung des Tages.

Keine Spur auch von der Zerreißprobe, die der eine oder andere den Regierungsparteien mit Blick auf den Steuerstreit für die Zeit nach der NRW-Wahl vorausgesagt hatte. Ganz im Gegenteil. Denn mit der verlorenen schwarz-gelben Bundesratsmehrheit ist dem Zank der Boden entzogen.

Angela Merkel hat gestern eine Mitverantwortung der Bundesregierung für die Wahlverluste der CDU in Nordrhein-Westfalen eingeräumt. "Wir haben in den ersten Monaten der Regierung in Nordrhein-Westfalen nicht Rückenwind gegeben, im Gegenteil, sogar Gegenwind", sagte die CDU-Vorsitzende. Es habe in der Berliner Koalition "an zu vielen Stellen zu unterschiedliche Meinungsäußerungen" gegeben. Das solle sich nun ändern. "Ich werde meinen Beitrag dazu leisten", versicherte die Kanzlerin. Sie verteidigte jedoch die Grundausrichtung der CDU-Politik. Bei der Verknüpfung der Wirtschaftsthemen mit sozialer Gerechtigkeit sehe sie "keinen Veränderungsbedarf", sagte Merkel. Zuvor war der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus im Parteipräsidium mit seinem Vorstoß aufgelaufen, diesen von Merkel verantworteten Kurs zu überprüfen. Eine Kabinettsumbildung schloss die Kanzlerin infolge der NRW-Wahl klar aus. Sie sprach von einer "herben Niederlage", ohne weitere Einsichten und Konsequenzen aus dem Debakel zu formulieren.

Westerwelle übernahm eine Mitverantwortung. "Wir sind uns darüber völlig im Klaren, dass dieses Ergebnis selbstverständlich auch mit unserer Arbeit hier in Berlin zu tun hat", sagte er nach Beratungen von FDP-Präsidium und Bundesvorstand. "Die Wähler haben einen Gong geschlagen. Dieser Gong ist in Berlin auch gehört worden." Schwarz-Gelb müsse nun "mehr Teamgeist" zeigen, "sachorientierter werden". Westerwelle wies Spekulationen zurück, er könnte den FDP-Vorsitz abgeben, um künftig nur noch Außenminister zu sein. Beide Ämter ließen sich "absolut" miteinander verbinden.

Die CDU hat bei der Landtagswahl am Sonntag mehr als zehn Prozentpunkte verloren, nur hauchdünn konnte sie ihre Position als stärkste Partei behaupten. Die FDP verbesserte sich im Vergleich zu 2005 leicht und landete bei 6,7 Prozent. In beiden Parteien wird seit gestern intensiv darüber gesprochen, was unter den veränderten Bedingungen noch möglich ist. Was von den im Koalitionsvertrag verabredeten Reformen nun noch übrig bleibt. Merkel wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass seit der Föderalismusreform ohnehin nur noch ein Viertel aller Gesetze die Zustimmung des Bundesrats benötigt. Aus Sicht von Koalitionären kommt erleichternd hinzu, dass Schwarz-Gelb zumindest im Vermittlungsausschuss, in dem strittige Gesetze am Ende landen, weiter die Mehrheit stellt. Der Vermittlungsausschuss gibt Empfehlungen an Bundestag und Bundesrat ab, wie Konflikte beizulegen sind. Solche Empfehlungen können mit einfacher Mehrheit beschlossen werden.

Ein Spaziergang, das ist allen Beteiligten klar, werden die nächsten Monate trotzdem nicht. Die Opposition hat ihren Widerstand gegen weitere Projekte der Koalition bereits angemeldet. Sie will weder der großen Gesundheitsreform noch einer Verlängerung der AKW-Laufzeiten zustimmen. In Koalitionskreisen wird deshalb als Ausweg diskutiert, nur noch eine sogenannte "kleine Kopfpauschale" einzuführen. Dafür, heißt es, benötige man die Zustimmung des Bundesrats wahrscheinlich nicht. Positiver Nebeneffekt: Auch die CSU, die von den einst hochfliegenden Plänen des FDP-Gesundheitsministers Philipp Rösler ohnehin nichts hält, könnte durch einen solchen Kompromiss möglicherweise wieder ins Boot geholt werden. Parlamentarische Beobachter weisen jedenfalls darauf hin, dass es Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer gewesen ist, der einst als Bundesgesundheitsminister ähnlich am Bundesrat vorbeioperiert hat. Das sei nämlich eine Frage der konkreten Ausformulierung der Gesetzestexte. Und was die Verlängerung der AKW-Laufzeiten anbelangt, könnte die Bundesregierung auf Zeit spielen. Die Kanzlerin hat gestern darauf hingewiesen, dass 2011 sechs Landtagswahlen anstehen, die die Bundesratsmehrheit erneut verändern können. Westerwelle ergänzte, bis dahin werde die Koalition ihre "Spielräume" ausloten. Dazu könnte zumindest eine Vereinfachung des Steuersystems gehören. Das würde bedeuten, dass das Steuerrecht entschlackt und den Bürgern die Abgabe ihrer Lohnsteuererklärung erleichtert würde.