Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, über die Folgen der Griechenland-Krise und die Macht der Karlsruher Richter.

Karlsruhe. Deutschlands höchster Richter schaltet sich in die Griechenland-Debatte ein. Im Abendblatt-Interview dringt Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle auf eine Regulierung der Märkte - und warnt vor wachsender Euro-Skepsis.

Hamburger Abendblatt:

Herr Präsident, Urteile wie zu Hartz IV oder zur Reform der EU haben den Eindruck verstärkt, dass sich das Bundesverfassungsgericht zu einem Ersatzgesetzgeber entwickelt. Verlagert sich das Machtzentrum der Republik von Berlin nach Karlsruhe?

Andreas Voßkuhle:

Nein, die Gesetze werden in Berlin gemacht. Der Eindruck, dass wichtige Entscheidungen in Karlsruhe getroffen werden und nicht in Berlin, entsteht durch Augenblicksaufnahmen. Bei Lichte betrachtet sind es nur sehr wenige Landes- und Bundesgesetze, die in den letzten 60 Jahren von uns für verfassungswidrig erklärt worden sind.

Es kursiert bereits das Wort von der "Karlsruher Republik". Bestreiten Sie, dass Sie Politik machen?

Wir treffen Entscheidungen, die eine politische Dimension besitzen, aber wir machen keine Politik. Als Verfassungsorgan ist Karlsruhe auch ein politischer Faktor. Aber bei unseren Urteilen und Beschlüssen zählt allein das verfassungsrechtliche Argument.

Wie erklären Sie sich, dass Regierende das Wirken des höchsten Gerichts als Übergriff empfinden?

Die Politik weiß um die eminent wichtige Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Ich selbst erlebe sehr viel Wertschätzung für unsere Institution in Berlin. Das heißt freilich nicht, dass man dort mit jeder Entscheidung einverstanden ist. Das wäre auch komisch, ja das müsste einen geradezu beunruhigen.

Sind Sie überrascht, wie viele handwerkliche Fehler in deutschen Gesetzen zu finden sind?

Auch bei großer Sorgfalt kommen handwerkliche Fehler vor. Das ist normal. Im Nachhinein betrachtet ist man meistens schlauer und denkt, diesen Fehler hätte man vermeiden können.

Sie haben jetzt in einem Aufsatz geschrieben, das Bundesverfassungsgericht trage eine zentrale Verantwortung für die europäische Integration. Verstehen Sie sich als Wegbereiter eines europäischen Bundesstaates?

Nur die Politik, nicht das Bundesverfassungsgericht kann diesen Weg bereiten. Unsere Aufgabe ist es, die Rechtsgemeinschaft auf europäischer Ebene zu verstärken. Dazu gehört auch, dass wir zum Beispiel die Fachgerichte anhalten, bei entsprechenden Fällen dem Europäischen Gerichtshof den Sachverhalt vorzulegen.

Ist die Griechenland-Krise eine Gefahr für die europäische Integration?

Die gegenwärtige Krise ist auch eine Herausforderung für die europäische Integration.

Zeigt diese Krise, dass sich die EU in den vergangenen Jahrzehnten übernommen hat? Lässt sich Vertiefung mit Erweiterung kombinieren, wenn die Unterschiede zwischen den Mitgliedern immer größer werden?

Die vielen unterschiedlichen Mitgliedstaaten zusammenzubinden ist Herausforderung und Chance zugleich. Dabei kommt es auch auf das Tempo an, das man vorlegt. Wir haben jetzt ein Stadium erreicht, in dem man die Vertiefung der europäischen Integration vielleicht wieder stärker in den Blick nehmen muss.

Was verstehen Sie darunter?

Die EU muss in den Mitgliedstaaten als Selbstverständlichkeit erkannt werden. Politische Prozesse, die häufig von nationalen Themen dominiert werden, müssen stärker europäisiert werden. Ich wünsche mir, dass wir uns noch stärker als Gemeinschaft der EU-Bürger verstehen und auch fühlen.

Die Aufnahme weiterer Staaten steht für Sie also nicht auf der Tagesordnung.

Über einzelne Erweiterungen wird man immer wieder nachdenken müssen. Aus meiner Sicht ist aber die Vertiefung der europäischen Integration eher das Gebot der Stunde.

Was bedeutet das für den Beitrittskandidaten Türkei?

Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind ein langer Prozess. Sein Ausgang wird auch davon abhängig sein, wie sich die Türkei weiterentwickelt. Das Bundesverfassungsgericht wird jedenfalls demnächst das türkische Verfassungsgericht besuchen und dazu beitragen, dass die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei weiter intensiviert wird.

Könnte ein Europa der zwei Geschwindigkeiten die Antwort auf die neue Herausforderung sein?

Da wäre ich sehr zurückhaltend. Die Europäische Union ist eine supranationale Gemeinschaft der Gleichen. Natürlich können einzelne Mitgliedstaaten eine besondere Rolle spielen aufgrund ihrer Größe, ihrer Wirtschaftskraft oder ihrer historischen Bedeutung. Aber zu einem Europa der gleichen Mitgliedstaaten sehe ich keine wirkliche Alternative.

Sie haben die EU als Verantwortungsgemeinschaft beschrieben. Ist Solidarität geboten, wenn Euro-Länder vor dem Staatsbankrott stehen?

Da es im Zusammenhang mit dieser Frage zu einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kommen könnte, möchte ich mich hierzu konkret nicht äußern.

Die Euro-Skepsis in der Bevölkerung ist groß. Wie wirken sich Hilfen für ein Land, das seine europäischen Partner über Jahre belogen hat, auf die Stimmungslage in der Republik aus?

Die Bundesrepublik Deutschland profitiert sehr von der EU. Das sollte man den Bürgern klarer vor Augen führen. Viele fühlen sich von der europäischen Integration eher bedroht, das macht mir Sorgen. Ob die Griechenland-Krise die Euro-Skepsis verstärkt, hängt davon ab, welche Maßnahmen zu ihrer Bewältigung ergriffen werden. Wir haben eine Situation, in der sich die Mitgliedstaaten als handlungsfähig erweisen müssen.

Wie kann sich Europa für die Zukunft gegen Staatspleiten wappnen?

Es ist notwendig, geeignete Konzepte für Krisen innerhalb der Währungsunion zu entwickeln. Die Märkte und ihre Akteure sind offensichtlich nicht in der Lage, es selbst zu richten. Wir brauchen in diesem Bereich allgemein eine stärkere Regulierung. Ich hoffe sehr, dass sich die Mitgliedstaaten darauf einigen können.

Deutschland hat eine Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Ein Modell für Europa?

Eine Schuldenbremse für die Euro-Zone ist ein Gedanke, den ich für überlegenswert halte. Wir haben bereits Stabilitätskriterien in den Verträgen verankert. Ihre effektive Kontrolle ist das Problem.

Die Wirtschaftskrise hat auch Deutschland in eine Rekordverschuldung geführt. Wo kann der Staat sparen, um die Vorgaben der Schuldenbremse zu erfüllen?

Wenn man über Privatisierung nachdenkt, muss man sich die einzelnen Felder sehr genau anschauen. Privatisierungsmaßnahmen im Bereich der kommunalen Infrastruktur haben sich zum Beispiel häufig als nicht besonders erfolgreich erwiesen. Nun beobachten wir einen Prozess der Rekommunalisierung, nicht zuletzt auch um die Qualität bestimmter Leistungen zu sichern: Abfall, Abwasser etc.

Sie stimmen nicht ein in den Ruf nach einer Reduzierung der Staatsaufgaben?

Das hört sich gut an, lässt sich aber nicht leicht bewerkstelligen. Aufgabenabbau führt auch nicht unbedingt immer zu einer Entlastung des Staates. Diesem obliegt in vielen Bereichen jedenfalls weiterhin die Gewährleistungsverantwortung für die Erfüllung einer Aufgabe: Sie können den Müll von privaten Firmen beseitigen lassen, der Staat muss aber weiter dafür Sorge tragen, dass diese Aufgabe ordnungsgemäß und umweltgerecht erfüllt wird.

Was bedeutet all dies für das Vorhaben der Bundesregierung, die Steuern zu senken?

Die Beurteilung, ob Steuersenkungen in dieser Situation möglich und sinnvoll sind, ist ureigene Aufgabe der Politik.

Guido Westerwelle, der Außenminister, fühlt sich beim deutschen Sozialstaat an spätrömische Dekadenz erinnert. Ein Hinweis auf Sparpotenzial?

Ich will diese Aussage nicht kommentieren, weise allerdings darauf hin, dass sich Sozialstaatlichkeit und eine starke Wirtschaft gegenseitig bedingen. Der Sozialstaat war und ist in der Bundesrepublik Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Ich warne davor, das eine gegen das andere auszuspielen.

Konkret?

Schauen Sie sich das Bildungssystem an. In Staaten wie den USA müssen die Menschen große Teile ihres Gehalts für die Ausbildung ihrer Kinder aufbringen. In Deutschland haben wir ein leistungsfähiges System, das jedem Kind grundsätzlich eine hervorragende Ausbildung für sehr wenig Geld ermöglicht. Das ist auch ein Teil des Sozialstaats, der dazu führt, dass wir ein sehr hohes Bildungsniveau innerhalb der Bevölkerung besitzen. Bildung ist unsere wichtigste Ressource. Sie führt dazu, dass unser Land handlungs- und leistungsfähig bleibt.

Auslöser der jüngsten Sozialstaatsdebatte war das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Parteien streiten, ob die Regelsätze nun erhöht werden müssen. Müssen sie?

Nein. Das Bundesverfassungsgericht fordert eine nachvollziehbare realitäts- und bedarfsgerechte Berechnung der Regelsätze, macht aber keine Vorgabe zu deren Höhe.

Könnte der Gesetzgeber die Hartz-IV-Sätze dann auch senken?

Das kommt darauf an. Sie dürfen jedenfalls nicht evident unzureichend sein.

Herr Voßkuhle, Sie bekennen sich dazu, "sozialdemokratischen Grundgedanken" nahe zu sein. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit als Verfassungsrichter aus?

Wenig bis gar nicht. Die politische Grundhaltung spielt bei der konkreten verfassungsrechtlichen Argumentation in aller Regel keine Rolle. Das Bundesverfassungsgericht ist - anders als etwa das Supreme Court in den USA - sehr wenig politisiert. Wir pflegen einen sachbezogenen Diskurs, den ich auch als Wissenschaftler sehr schätze.