Butsyn/Ukraine. Hanna Mykhaylivna aus dem Dorf Butsyn überlebte den Zweiten Weltkrieg. Sie vergleicht die Deutschen von damals mit den Russen heute.

Hanna Mykhaylivna tippt mit ihren knorrigen, kleinen Fingern an das schwarze Gerät auf dem Tisch vor ihr. „Das ist ein deutsches Radio“, sagt sie und lacht verschmitzt, als habe sie einen Witz erzählt. Sie sitzt hier jeden Tag, schaut aus dem Fenster in ihren Garten und hört die Nachrichten über den russischen Überfall auf ihre Heimat. Dann kommen die Erinnerungen an die Zeit vor 80 Jahren hoch, als der Feind aus dem Westen nach Butsyn gekommen war, dem kleinen Dorf im Nordwesten der Ukraine, in dem Frau Mykhaylivna fast ihr ganzes Leben verbracht hat.

Die Schlaglöcher der Straßen in Butsyn sind an diesem wolkenverhangenen, nassen Apriltag zu Pfützen geworden. Gänse watscheln gemächlich am Straßenrand und zupfen Gras, Hähne krähen. Die beiden goldenen Zwirbeltürme der hölzernen Dorfkirche glänzen regenfeucht, es ist kaum jemand unterwegs. An der großen Kreuzung steht das klobige Denkmal aus der Sowjetzeit, das an diejenigen erinnert, die vor acht Jahrzehnten im Kampf gegen die deutschen Besatzer gestorben sind. Auf der Wand sind 103 Täfelchen mit den verblassten Bildern der Toten angebracht.

91 Jahre alte Ukrainerin erlebte Zweiten Weltkrieg und die deutsche Invasion

Frau Mykhaylivna wohnt an der Dublka-Straße, vielleicht fünfhundert Meter entfernt von der Dorfschule, die sie als Kind besucht hat, und in der sie später Mathematik und Physik unterrichtet hatte. Sie ist 91 Jahre alt, doch sie erinnert sich noch sehr genau an den Tag, als die Männer in den seltsamen Fahrzeugen ins Dorf kamen. „Wir wussten, das sind die Deutschen“, erzählt sie. Nicht nur irgendwelche Deutschen. Es sei die Gestapo gewesen, die sich neben der Schule einquartierte.

Der Bürgermeister von Butsyn, Petro Federowitsch, mit der Dorfflagge. Die Farbe Schwarz steht für das Land, Rot für Blut.
Der Bürgermeister von Butsyn, Petro Federowitsch, mit der Dorfflagge. Die Farbe Schwarz steht für das Land, Rot für Blut. © Funke Foto Service | Reto Klar

„Wir hatten Angst“, sagt sie. „Aber es wurde kein Mensch aus unserem Dorf getötet.“ Ja, die Deutschen hätten Häuser verbrannt, als sie gegen die Partisanen gekämpft hätten, aber das sei eben ein Kampf zweier Armeen gewesen. Heute hingegen höre sie jeden Tag im Radio Nachrichten von getöteten Kindern. „Die Deutschen haben nie ein Kind angefasst.“ Es ist eine sehr altersmilde Sicht auf die Vergangenheit. Tatsächlich starben während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg acht Millionen Menschen in der Ukraine, davon waren 1,6 Millionen Juden – darunter auch Kinder.

Die Partisanen, von denen die alte Frau spricht, waren Milizionäre der Ukrainischen Aufständischen Armee, kurz UPA, die im Zweiten Weltkrieg zwischenzeitlich mit den Deutschen kollaborierten, sich dann aber gegen sie wandten und später gegen die Sowjets kämpften. In Butsyn wurden die letzten UPA-Kämpfer im Jahr 1955 getötet. Viele der Einwohner des Dorfes wurden damals nach Sibirien deportiert, weil sie verdächtigt wurden, mit der UPA zusammenzuarbeiten.

Ukraine-Krieg: Butsyn – ein Ort wartet auf das Schrecklichste

Hanna Mykhaylivna atmet tief durch und seufzt. „Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Es ist alles so verrückt.“ Sie ist müde und sie fühlt sich zu alt, um noch zu fliehen. Bei ihr ist Petro Federowitsch, er räuspert sich. „Aus Feinden wurden Brüder. Und aus Brüdern sind Feinde geworden“, sagt er staatsmännisch. Er ist der Bürgermeister von Butsyn, unter seiner dicken Jacke trägt er eine olivgrüne Uniform, an seinem Gürtel hat er einen Dolch befestigt. Der Feind steht nicht weit entfernt von seinem Dorf, bis zur Grenze von Belarus sind es etwa fünfzig Kilometer, und dahinter liegt das Aufmarschgebiet der russischen Armee. Bislang ist Butsyn von Gewalt verschont geblieben, doch seit dem Beginn des Moskauer Angriffskriegs hat sich auch in dem verschlafenen Dorf viel verändert.

Ehrendenkmal für die gefallenen sowjetischen. Soldaten im Zweiten Weltkrieg.
Ehrendenkmal für die gefallenen sowjetischen. Soldaten im Zweiten Weltkrieg. © Funke Foto Service | Reto Klar

Die Straße, die nach Butsyn führt, ist mit einem großen Checkpoint gesichert. Sandsäcke, ein Labyrinth aus Betonsperren. Die Laubwälder, die das Dorf umgeben, sind von Schützengräben durchzogen. Auf einem Acker stehen mit Tarnnetzen geschützte Mörser, die Richtung Norden ausgerichtet sind. Das Rathaus steht gleich hinter der Schule, die Hanna Mykhaylivna als Kind besucht und in der sie später unterrichtet hatte. Früher war sie aus Holz, jetzt ist sie aus Backstein.

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In dem Verwaltungsgebäude, einem schmucklosen zweigeschossigen Plattenbau aus den 1960er-Jahren, vor dem eine alte Birke steht, liegen im Flur drei hölzerne Munitionskisten. Das Büro von Petro Federowitsch ist ein kleiner Raum, in den zwei Schreibtische, ein Schrank und ein Tresor gezwängt sind. An einer Wand lehnt eine Fahne mit dem Wappen des Dorfes, es ist Schwarz, Rot und Weiß, über der Tür hängt eine Ikone. Schwarz und Rot waren auch die Farben der UPA. Schwarz steht für das Land. Rot für das Blut.

Auf dem Schrank im Büro des Bürgermeisters stehen zwei Pokale. „Unsere Fußballmannschaft hat im vergangenen Jahr die regionale Meisterschaft gewonnen“, erzählt Federowitsch. Vor Kurzem hat sich der Bürgermeister noch vor allem Gedanken darüber gemacht, wie er eine kleine Fabrik ansiedeln kann, die Apfelsaft produziert, um Arbeitsplätze zu schaffen, damit die Jungen nicht nach Polen oder Tschechien gehen.

Wie viele Männer aus dem Dorf im Krieg sind, bleibt geheim

Jetzt sind einige der jungen Männer aus dem Dorf im Krieg, wie viele es sind, darf der Bürgermeister nicht sagen. „Unsere jungen Leute sind sehr patriotisch. Als der Krieg begann, haben sich vor den Rekrutierungsbüros lange Schlangen gebildet.“ Noch hat es keine schlimmen Nachrichten von denen gegeben, die in den Osten beordert wurden. „In unserer Kirche und zu Hause beten wir jeden Tag für die Sicherheit unserer Jungs“, sagt Federowitsch.

Auch in Butsyn gilt nachts wie überall im Land eine Ausgangssperre. „Wir verdunkeln dann unser Dorf.“ Natürlich, sagt der Bürgermeister, sei man sich in Butsyn des Risikos bewusst, das von Belarus ausgehe. „Wir haben hier eine strategisch wichtige Autobahn. Einige aus der Region haben auch mitbekommen, wie vor zwei Wochen ein Marschflugkörper Richtung Lutsk geflogen ist. Dort ist der Flughafen völlig zerstört worden.“ Ob die Belarussen selbst an der Seite Russlands in den Krieg eingreifen, wie die ukrainische Regierung von Zeit zu Zeit warnt, darüber ist sich der Bürgermeister nicht im Klaren.

Die Dorfbewohner beten jeden Tag für das Leben ihrer Jungs

Sie haben hier in Butsyn enge Beziehungen zu den Nachbarn. Die Grenze war bis zum Beginn des Kriegs offen. „Wir haben viele Verwandte da drüben. Einer meiner besten Freunde lebt in Minsk. Unsere Söhne haben dieselbe Schule besucht. Es wäre doch Wahnsinn, wenn die beiden gegeneinander kämpfen müssten.“ Aber Federowitsch ist auch bewusst, dass die russische Propaganda jenseits der Grenze greift. „Im belarussischen Fernsehen heißt es, es seien ukrainische Nationalisten, die die Städte zerstören. Die verdrehen alle Fakten. Das Internet ist blockiert.“

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Ein Besuch ist dem Bürgermeister noch wichtig, der des Friedhofs. Auf den marmornen Grabsteinen sind die Gesichter der verstorbenen Dorfbewohner abgebildet, von vielen wehen bunte Bänder. Ein Grab ist besonders üppig geschmückt. Ein junges Gesicht ist auf dem Grabstein zu sehen. Federowitsch nimmt Haltung an. „Das ist Tarasuk Bodan“, sagt er. Bodan ist im August 2014 als Soldat im Donbass gestorben. Er wurde 24 Jahre alt, und für die Bewohner von Butsyn ist er ein Held. Sie haben eine Straße nach ihm benannt, auch in der kleinen Bücherei des Rathauses steht sein Bild in einem Regal.

„Wir wollen nicht wieder so etwas wie die Sowjetunion werden“, sagt Federowitsch. „Ich werde mein Dorf mit allen Kräften verteidigen, wenn sie kommen sollten. Das werden wir hier alle tun.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.