Schöneiche. Nur ein zwei Millionen Euro teures Medikament kann den kleinen Sohn der ukrainische Familie Hranatiuk retten. Doch wer bezahlt das?

Vita hält den kleinen Davyd auf ihrem Arm. Sie sitzen auf einem Zweiersofa. Ein kleiner Holztisch vor ihnen. Daneben ein großes Bett und ein Beatmungsgerät auf dem Nachttisch. Davyd trägt einen babyblauen Pullover, eine gestreifte Hose. Die Mutter drückt ihn enger an sich, sie küsst sein Köpfchen, er brabbelt friedlich. Sie rückt ihn sanft gerade, er selbst kann das nicht, nicht den Rücken durchdrücken, keine Spannung halten.

Davyd ist erst neun Monate alt und schwer krank. Die Diagnose lautet Muskelschwund, Spinale Muskelatrophie Typ 1, nur eines von 10.000 Babys kommt mit diesem Gendefekt zur Welt. Wird er nicht behandelt, mit den richtigen Medikamenten, sterben die meisten noch im zweiten Lebensjahr an Atemnot.

Ukraine-Krieg: Schöneiche hat 73 Flüchtlinge aufgenommen

Vita ist 26 Jahre alt, hübsch, aber müde, sie ist mit einem hellen, weichen Trainingsanzug bekleidet, den hat ihr eine Frau aus der Gemeinde Schöneiche geschenkt. Knapp 13.000 Einwohner gibt es, die etwa 73 Flüchtlinge aus der Ukraine beherbergen, meist privat. Vita, ihr Sohn Davyd, ihr Mann Oleksandr und ihr siebenjähriger Artjom sind die Familie Hranatiuk aus Zshashkiv, einer Stadt in der Mitte der Ukraine.

Am 3. März kamen sie in Schöneiche an und wohnen seither auf dem Bauernhof der Familie Buchalik. In einer Ferienwohnung, 41 Quadratmeter unterm Dach. Mit Küche, schönem Bad und einem Zimmer. In Schöneiche unterstützt man sich, es gibt einen Helferverein für Flüchtlinge, dazu gehört auch Claudia Buchalik, die Gastgeberin. Besonders hat es ihr Artjom angetan, er spielt draußen, erkundet Hof und Felder. Liebevoll nennt sie ihn „mein Michel von Lönneberga“. Heute darf er mit dem Opa Buchalik und den anderen Kindern der Familie in den Zirkus.

Die ukrainische Familie Hranatiuk (v. l.) – Vater Oleksandr, Mutter Vita, die Söhne Davyd und Artjom (7).
Die ukrainische Familie Hranatiuk (v. l.) – Vater Oleksandr, Mutter Vita, die Söhne Davyd und Artjom (7). © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Krieg in der Ukraine: Als sie die Raketen hört, kommt die Angst

Vita hält ihr Handy in ihrer freien Hand, sie spricht Ukrainisch und eine App übersetzt ihre Worte ins Deutsche. Sie erzählt vom 25. Februar 2022: „Als ich die Raketen hörte, habe ich Angst bekommen. Ich wollte unbedingt noch schnell bei der Apotheke vorbei, das Medikament holen.“ Doch die Apotheke lag in Trümmern.

Am 24. Februar brach der Krieg über die Ukraine herein. Und es ist auch der Tag, der die künftige Unterversorgung von Davyd in der Ukraine voraussagte. Dieses Medikament, welches Davyd jeden Monat bekommt, ist zwar noch nicht die Zwei-Millionen-Euro-Spritze, die ihm das Leben retten kann, aber es wirkt dem Muskelschwund entgegen. Es heißt Risdiplam und kostet jeden Monat 11.000 Euro.

Vita war noch nie im Ausland, nur Oleksandr mal in Polen. In Zshashkiv haben sie eine Wohnung, sie steht noch. Vitas und Oleksandrs Eltern rufen täglich an und halten die beiden auf dem Laufenden. Vita ist traurig, wenn sie an ihre Eltern und ihre Heimat denkt. „Ich habe Sehnsucht“, sagt sie wieder ins Handy und ihre Augen werden glasig. Ihr Mann Oleksandr kommt aus der Küche, setzt sich zu ihr, umarmt sie und sein Baby.

Flucht aus der Ukraine: Freiwillige fahren sie bis nach Berlin

Über Bekannte und soziale Medien wie Facebook und Instagram organisierten sie ihre Flucht. Teilweise wurden sie von fremden Leuten gefahren, nach Lwiw, nach Warschau, Etappe für Etappe halfen Freiwillige, sie bleiben immer ein paar Nächte, bis es weitergeht. Am 3. März erreichen sie den Zentralen Omnibusbahnhof in Berlin. Dort warten schon ukrainischstämmige Helferinnen und Helfer, Menschen, die gehört haben, dass eine Familie ankommt, die dringend Hilfe braucht – und ein Kind seine Medikamente.

Sie setzen eine Welle der Hilfsbereitschaft in Gang. Zuerst kümmert sich die freiwillige Helferin Sandrina in Berlin, die kennt wiederum Yuliya Teplyakova, sie wird erst die Übersetzerin der Familie, dann ihre Freundin in Schöneiche.

Viele Helfer und Helferinnen versorgen Davyd mit wichtiger Medizin

Am Omnibusbahnhof haben die Malteser die Erstversorgung der Geflüchteten übernommen. Sie haben Zelte aufgebaut, mit Lebensmitteln, mit Kleidung, ein Ruhezelt mit Betten und einem Fernseher. Und ein Sanitäterzelt. Die Malteser bringen Wasser, sind ansprechbar, vermitteln Hilfe und Kontakte. Sandrina erklärt energisch Davyds Situation.

Felicitas von Wietersheim, 55 Jahre alt, Managerin der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung erinnert sich. „Es musste damals alles sehr schnell gehen, weil Davyd schon unterversorgt in Deutschland ankam.“

In der Praxis ist zum Glück ein Kinderarzt zur Stelle, er untersucht den Jungen, stellt ein Rezept für Risdiplam aus. Doch wer soll das Medikament bezahlen? Die Familie hat keine Krankenkasse in Deutschland. Das Malteser Fundraising-Team stellt Kontakt zur herstellenden Firma Roche her. Die Firma spendet Davyd die Monatsdosis. Die medizinische Fachangestellte der Malteserpraxis hält den Kontakt zur Familie und zu der Apotheke, an die das Medikament geliefert wird, organisiert die Abläufe.

„Im Rückblick ist es schon ein kleines Wunder, dass in dieser für das Kind kritischen Situation alles geklappt hat und alle an einem Strang gezogen haben“, sagt von Wietersheim am Telefon. Es sei eine „große Kraftanstrengung“ gewesen, für Davyd das Medikament zu besorgen. „Aber das ist eine unglaubliche schöne Erfahrung und motiviert uns noch mehr.“

Davyd wird an die Charité überwiesen, dort wird er in den nächsten Wochen weiter behandelt.

Unverhoffte Rettung, edle Spender

Bei der Erinnerung an diese ersten Tage, an das Geschenk von Roche, muss Oleksandr lächeln. Die Firma Roche möchte auf Nachfrage keine Auskunft geben, nur so viel schickt die Presseabteilung: „Roche verurteilt den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste und tut derzeit alles, um seine Mitarbeitenden und ihre Familien in der Ukraine zu unterstützen und die Versorgung von Patientinnen vor Ort mit lebenswichtigen Medikamenten so weit wie möglich sicherzustellen.“

Der Vater Oleksandr durfte mit ausreisen, weil er Davyds gesetzlicher Betreuer ist. Vita hatte ihn, als man im dritten Monat feststellte, dass das Baby krank ist, als solchen eintragen lassen. Für die Familie ist das ein Glück. Oleksandr konnte mit nach Deutschland. Doch auf die Frage, wie er das findet, hebt er gedrückt seine Schultern. „Wenn mein Sohn nicht krank wäre, würde ich mich freiwillig melden, an die Front gehen und kämpfen. “ Ihm fällt es schwer, das zu sagen. Vita kann ihn nicht anschauen, wieder fallen ein paar Tränen.

Die Familie Hranatiuk in ihrer Wohnung in Schöneiche, eigentlich eine Ferienwohnung.
Die Familie Hranatiuk in ihrer Wohnung in Schöneiche, eigentlich eine Ferienwohnung. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Er reibt seine Hände aneinander. Oleksandr ist schlank, drahtig, auch erst 29 Jahre alt. In der Ukraine war er Elektroschweißer, er will sobald wie möglich wieder arbeiten.

Seine Gastgeberin Claudia Buchalik steht auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes, sie sagt Bescheid, dass der Opa jetzt zum Zirkus wolle, Artjom soll runterkommen. Sie erzählt auch, dass Oleksandr jede Arbeit, die er auf dem Hof erledigen kann, an sich nimmt. „Und da lässt er sich auch nicht von abbringen.“

Die Buchaliks erhalten jetzt eine Aufwandsentschädigung von 460 Euro von der Gemeinde. Das Geld wollten sie erst nicht annehmen, aber dann hatte der Opa die Idee, das Geld auf ein Konto für Davyd und Artjom zu legen.

In Zhashkiv hatte die Familie einen teuren Kinderwagen, einen Hochstuhl für Davyd, ein Auto.

Davyd lächelt zum ersten Mal, ein Glücksmoment

Der kleine Davyd lächelt seine Mutter an. Vita küsst ihn wieder. Die Spinale Muskelatrophie führt bei Davyd dazu, dass er sein Köpfchen nicht allein halten, sich gar nicht bewegen kann. Er hat Atemschwierigkeiten, kann kaum selbständig schlucken und essen. Dazu liegt er die halbe Nacht am Atemgerät, ein anderer Apparat hilft ihm zu husten und zu niesen, sonst beginnt er zu röcheln.

Tägliche Prozedur: Vita Hranatiuk hat ihren Sohn Davyd an ein Gerät angeschlossen, das ihm hilft zu atmen.
Tägliche Prozedur: Vita Hranatiuk hat ihren Sohn Davyd an ein Gerät angeschlossen, das ihm hilft zu atmen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Zolgensma: So wirkt die Zwei-Millionen-Spritze

Als die Familie vor einem halben Jahr von Davyds Krankheit erfuhr, starteten die Eltern einen Spendenaufruf. Auf einem Konto in der Ukraine liegen inzwischen 30.000 Euro. Doch da kommen sie nicht ran. Bei der Spendenaktion geht es um die lebensrettende Spritze. Das Mittel heißt Zolgensma und wird von der Schweizer Firma Novartis hergestellt. Die einmalige Dosis kostet 2,2 Millionen Euro und hält den Muskelschwund auf, wenn sie bis zum zweiten Lebensjahrs gegeben wird. Vita sagt: „Das Kind darf nicht mehr als 13 Kilogramm wiegen. Es ist ein Rennen gegen die Zeit.“ In Deutschland gibt es ein Gerichtsurteil zur Spritze, eine Familie mit einem Jungen verklagte ihre Krankenkasse, die die Kosten nicht übernehmen wollte. Die Familie gewann, die Kasse musste zahlen. Das Kind hat überlebt.

„Das ist meine Hoffnung für Davyd“, sagt Vita. Inzwischen ist die Familie Hranatiuk bei der BKK-VBU versichert. Die Eltern, die neuen Freunde aus Schöneiche, aber auch die Familie Buchalik warten auf eine Zusage, darauf, ob die Krankenkasse vielleicht erst einmal bereit ist, die nächste Dosis Risdiplam zu bezahlen. Immerhin auch 11.000 Euro.

Spinale Muskelatrophie Typ 1, das ist die tödliche Krankheit

Bei der Muskelatrophie Typ 1 ist Erbinformation auf dem sogenannten Survival-Motor-Neuron (SMN)-Gen verändert. Bei kranken Kindern funktioniert das Gen nicht und das von den Nervenzellen benötigte Eiweiß wird nicht produziert. Davyd braucht also einen Ersatz für das SMN1-Gen. Risdiplam hilft, den Proteinspiegel des Patienten zu verbessern und so die Muskeln zu stimulieren. Die Zwei-Millionen-Euro-Spritze wirkt dagegen wie ein Trojanisches Pferd. Dabei wird ein Ersatz-Gen über einen Virus in die Zellen eingeschleust. Der Virus wird vom Körper akzeptiert, eingelassen und fügt das intakte Ersatz-Gen an. Die Herstellung ist extrem aufwendig – und deshalb so teuer.

Am Donnerstag hat die Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen, dass ukrainische Geflüchtete ab Juni Zugang zur Grundsicherung bekommen, damit sind sie normal krankenversichert.

Ein erster Erfolg für Davyd, doch wird das reichen?

Claudia Buchalik ruft an: „Die Krankenkasse hat zugesagt, jetzt schon mal die 11.000 Euro im Monat für Risdiplam zu zahlen. Alle freuen sich so.“ Artjom lernt fleißig Deutsch, obwohl er noch nicht zur Schule kann. Oleksandr hat ein Jobangebot, aber Angst Deutsch zu lernen, die Sprache sei so schwer. Und Vita? „Es geht. Sie denkt an nichts anderes als die Spritze für Davyd.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen